Provokation
Herausforderung
Absurdes und Nachdenkenswertes aus den sozialen Medien kommentiert von Georg Rieger
Aufgeblasen
»Es ist manchmal zum Greifen deutlich vor unseren Augen, wie eine solche Macht, ein solches Reich des Geschwätzes, des Diebstahls und der Bitterkeit zwar gestern noch mächtig und aufgeblasen dastand und alles fressen wollte, heute schon ganz merklich zusammenschrumpft wie ein müde gewordener Meßballon, und wer weiß, ob es übermorgen nicht heißen wird: ›ihre Stätte kennet sie nicht mehr‹ [Ps 103,16]?«
Karl Barth, Predigt zu Eph 4,21b-32 (1943), in: Predigten 1935-1952 (GA I.26), 286f
Karl Barth, Predigt zu Eph 4,21b-32 (1943), in: Predigten 1935-1952 (GA I.26), 286f
Zweite Welle
»Was uns als Kameradschaft in diesen Jahren gewissermaßen automatisch zugewachsen ist, das darf nun nicht wieder absterben, das muß nun weiter wachsen. Der Neuaufbau wäre offenbar sofort gefährdet, wenn wir in dieser Hinsicht zurück statt vorwärts gingen. Wir werden es uns nicht mehr erlauben können, die Freiheit aufs neue darin zu sehen und zu suchen, daß ein Jeder möglichst unbekümmert seiner Wege geht. Wir sollten einer Freiheit, für die wir so oder so gestraft worden sind, an der wir beinahe zugrunde gegangen wären, nicht nachtrauern, geschweige denn, daß es sinnvoll wäre, sie wieder herstellen zu wollen.«
Karl Barth, Die geistigen Voraussetzungen für den Neuaufbau in der Nachkriegszeit (1945), in: Eine Schweizer Stimme: 1938-1945, 426
Karl Barth, Die geistigen Voraussetzungen für den Neuaufbau in der Nachkriegszeit (1945), in: Eine Schweizer Stimme: 1938-1945, 426
Jedem seine Zeit
»Ja, es hatten Alle ihre Zeit: der Engländer mit seinem Weltreich, der Franzose mit seiner großen Nation, der Hitler mit seinem tausendjährigen Reich, der Amerikaner, der die ganze Welt kaufen wollte, der Russe mit seinem Weltkommunismus, der Ungar mit seinem stolzen Heldenmut und so auch der Schweizer mit seiner großen Selbstzufriedenheit und Selbstgerechtigkeit. Alle hatten ihre Zeit. Die Stunde schlägt, die alte ist vorbei, eine neue hat begonnen. Sie ist vorbei. Das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen.«
Karl Barth, Predigt zu Mk1,14-15 (1956), in: Predigten 1954-1967 (GA I,12), 67
Karl Barth, Predigt zu Mk1,14-15 (1956), in: Predigten 1954-1967 (GA I,12), 67
Neue Maske
»Der natürliche Mensch ist ein böses Tier, das sein Spiel, auch wenn es für einmal zu Ende ist, allzu gerne in einer neuen Maske an einem anderen Ort von vorne anfängt.«
Karl Barth, Brief an einen amerikanischen Kirchenmann, 1942, in: Eine Schweizer Stimme: 1938-1945, 295
Karl Barth, Brief an einen amerikanischen Kirchenmann, 1942, in: Eine Schweizer Stimme: 1938-1945, 295
EU-Sondergipfel
»Gerade wenn wir, menschlich geredet, auf die höchsten Gipfel steigen, wird unsere tiefste Tiefe offenbar. Je mehr Licht, um so mehr Schatten. Je mehr Eifer, um so mehr Sünde. Je mehr Moral und Ideale, um so mehr Unwahrheit und Lieblosigkeit. Je mehr Urteil, um so mehr Verdammnis.«
Karl Barth, Predigt zu Kol 2,14, in: Predigten 1917 (GA I.32), 119f
Karl Barth, Predigt zu Kol 2,14, in: Predigten 1917 (GA I.32), 119f
Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist
»Politische Pflichterfüllung erschöpft sich aber für uns hoffentlich nicht im Steuerzahlen und in sonstiger passiver Gesetzmäßigkeit. Politische Pflichterfüllung heißt für uns darüber hinaus: Verantwortliches Wählen der Obrigkeit, verantwortliches Entscheiden über die gelten sollenden Gesetze, verantwortliches Achten auf ihre Durchführung, mit einem Wort aktives politisches Handeln, das dann wohl auch politischen Kampf bedeuten kann und muß. Wenn die Kirche dem modernen Staat nicht gerade diese Form politischer Pflichterfüllung zu garantieren hätte, was hätte sie ihm, dem ›demokratischen‹ Staate, dann überhaupt zu bieten?«
Karl Barth, Rechtfertigung und Recht (1938), in: Eine Schweizer Stimme: 1938-1945, 49), 53f
Karl Barth, Rechtfertigung und Recht (1938), in: Eine Schweizer Stimme: 1938-1945, 49), 53f
Die Basis bleibt
»Und ist es Ihnen andererseits nicht erinnerlich, mit welcher strammen biblischen Begründung einst die Theologen der amerikanischen Südstaaten die Notwendigkeit und Rechtmäßigkeit der Sklaverei zu verteidigen wußten? Aber was findet man denn, wenn man in der Bibel überhaupt in dieser Weise Systeme allgemeiner Wahrheit (...) gefunden zu haben meint? Wirklich die Gebote Gottes? Und nicht tatsächlich doch bloß eine in die Bibel hineingetragene, höchst eigene, (...) menschliche Idee von Lebensgestaltung? Ist uns die Schrift dazu gegeben? Lassen wir sie so wirklich den Meister sein, dem wir gehorsam sind? Müßte nicht alle Beachtung und alle Verkündigung der immer konkreten Weisungen der Schrift darauf zielen, uns (...) zum Hören dessen zu erziehen, was Gott durch diese Weisungen uns in der Zeit unserer Not und in der Not unserer Zeit sagen will? (…) Sind seine Gedanken nicht immer wieder höher als unsere Gedanken (...)?«
Karl Barth, An Pastor D. Wilhelm Kolfhaus 1932, in: RKZ 82 (1932), 221
Karl Barth, An Pastor D. Wilhelm Kolfhaus 1932, in: RKZ 82 (1932), 221
Man schämt sich
»In gewissen Krisenzeiten (...) kann dann die Unmenschlichkeit allerdings für eine Weile alle oder fast alle Dämme zerbrechen, zum Entsetzen der nicht direkt Beteiligten in allerlei allgemeiner Verrohung und Verwilderung an den Tag treten. Da mag dann das untere Ende jener schiefen Ebene plötzlich bei Vielen, auch bei Menschen und in Kreisen, in denen das von ferne nicht zu erwarten war, sichtbar werden. Es kann dann wohl das menschliche Kollektiv als solches in erschreckender Weise zum Scheusal werden. Aber solche Krisenzeiten pflegen vorüber zu gehen, das zivile Zusammenleben der Menschen nachher wieder relativ zur Ruhe zu kommen, die ihm notorisch gefährlichen Erscheinungen wieder zu Ausnahmen zu werden. Der Unmensch verzieht sich dann im Ganzen wieder in die Kulisse. Man schämt sich seiner aufs neue.«
Karl Barth, KD IV/2, 496f
Karl Barth, KD IV/2, 496f
Alles für den Eigennutzen
»Das Verhältnis eines heutigen Fabrikanten zu seinen Arbeitern ist eben wirklich nicht ein Abbild des Verhältnisses Jesu zu seinen Jüngern, sondern etwas total Anderes. Einem Menschen kann man sich willig und freudig unterordnen, aber wie kann man zufrieden sein, wenn man einmal gemerkt hat, daß es ja im Grunde doch nur um das goldene Kalb geht? Und nun verschwindet aus diesem Verhältnis Zug um Zug alles Freundliche, Gute, das es natürlicher Weise an sich haben könnte. Wer kann denn heute in abhängiger Stellung seine Arbeit aus eigenem Herzen tun, wie Paulus sagt, wenn er doch sieht, daß er als Mensch mit einem Herzen da gar nicht in Betracht kommt, sondern nur als ein Stück Maschine, das man heute ein- und morgen ausschaltet? Wie kann man in dieser Lage mit gutem Willen arbeiten, wo man doch nur den Götzen Mammon sich gegenüber hat (…)? Wie kann man im modernen Wirtschaftsleben uneigennützig sein, wo Alles auf den Eigennutzen eingerichtet ist und nach Eigennutzen verlangt, weil der Gott dieses Lebens der Eigennutzen selbst ist?«
Karl Barth, Predigt zu Eph 6,5-9, in: Predigten 1919 (GA I.39), 303
Karl Barth, Predigt zu Eph 6,5-9, in: Predigten 1919 (GA I.39), 303
Ausgangslose Sackgasse
»Wußte der Westen schließlich keinen besseren Rat, als seine Zuversicht auf seine infamen A- und H-Bomben zu setzen, und geschah es ihm nicht recht, erfahren zu müssen, daß der andere auf diesem Gebiet auch nicht müßig und erfolglos geblieben war? Gab es ihm gegenüber keine bessere Diplomatie als die, die die Welt nun in diese (...) ausgangslose Sackgasse hineinmanöveriert hat? Und weiter: Was war das für eine westliche Philosophie, politische Ethik — und leider auch Theologie, deren Weisheit darin bestand, den östlichen Kollektivmenschen in einen Engel der Finsternis, den westlichen ›organisation man‹ aber in einen Engel des Lichtes umzudichten und mit Hilfe dieser Metaphysik und Mythologie (...) dem absurden Wettlauf des ›Kalten Krieges‹ die nötige höhere Weihe zu geben?«
Karl Barth, How my mind has changed, 1928-1958, in: Der Götze wackelt, 1961, 202f
Karl Barth, How my mind has changed, 1928-1958, in: Der Götze wackelt, 1961, 202f