Wortklauberei
Glaubenssachen
Wortklaubereien
Endlich können alle sehen, was seit dem fünften Jahrhundert in diversen Modellen schon zu sehen war, aber seither reichlich in die Jahre gekommen ist: das Väterliche, der Sohn und die heilige Kraft. Endlich bringt ein Werbespot in jede Stube, was in der Geschichte kunstvolle Ausprägungen gewonnen hat, aber von der Kirche institutionell beschlagnahmt scheint: ein grossartig durchdachtes Gottesbild. Endlich feiert eine Vorstellung Auferstehung, mit der leider viel Hirn, Macht und Zwang, so auch zu viel lastende Vergangenheit verknüpft werden und die nun mit geradezu prophetischem Schwung für 2026 angekündigt wird, heute natürlich global, englisch und kompetitiv: Trinity.
Mit diesem Modell will sich ein Konzern an die Spitze der Zukunft setzen, dessen Anfangserfolg aus einer eigens für ihn gebauten Stadt kam. Das Erfolgsmodell hiess, damals noch gut Deutsch, „Kraft-durch Freude-Wagen“, und alle waren aufgefordert, täglich fünf Reichsmark zurückzulegen, um möglichst bald die 990 RM für ihren eigenen Volkswagen bereit zu haben, 60 RM Aufpreis für die Cabrio-Limousine, damals noch gut Deutsch „Innenlenker mit Faltdach“. / Das auf tausend Jahre angelegte Reich verschwand nach zwölf Jahren, geblieben ist sein Volkswagen. Die wertverbindliche Institution Kraft-durch-Freude ist verschwunden, geblieben sind deren vollmundigen Sprüche, heute natürlich global, englisch und kompetitiv, und der Anspruch auf die Spitze der Zukunft.
Kompetitiv geht es darum, der vorausliegenden Firma Tesla den Rang abzulaufen. Ob jene bei der Familie von Nikola Tesla (1856-1943), Sohn eines serbisch-orthodoxen Priesters, nachgefragt hat, oder beim Staat Serbien, der den Physiker und Elektroingenieur als Held der Nation verehrt, mit Museum und Flughafen in Beograd, ist ebenso wenig zu eruieren wie, ob diese bei denen nachgefragt hat, für die Trinität nach wie vor ein Kernstück ihres Glaubens bildet. Wohl nicht, denn Schamlosigkeit prägt Modellbezeichnungen nicht zum ersten Mal: Die Firma aus der ehemaligen Kraft-durch-Freude-Stadt wird kaum beim Volk der Touareg angefragt haben, ob ihr Volkswagen nach ihnen benannt werden darf. Mal sehen, ob der Trinity, falls er kommt, wie der Käfer zwölf Jahre überstehen wird.
MK
Was zählt? Immer beliebter scheint eine Redewendung zu werden, die seit zwanzig Jahren als Übersetzung in unsere Medien eingewandert ist, eine englische Migrantin. Immer öfter ist zu hören, es zähle nur, was am Ende des Tages gelte, obwohl dann, etwa 23:59, die meisten ja schlafen oder trübsinnig in ihren letzten Bourbon starren oder, das Glück möge ihnen hold bleiben! gerade ein lustvolles Liebesraunen hören lassen. Ja, hat ein Tag überhaupt Anfang und Ende, seit es keine Nachtwächter mehr gibt, die seine Stunden ausrufen und besingen, seit Glocken aus Gründen der Lärmbelästigung schweigen? „Hört ihr Leut, und lasst Euch sagen: / unsre Glock hat Zwölf geschlagen!
Zwölf, das ist das Ziel der Zeit, / Mensch bedenk die Ewigkeit!“ / Ziel der Zeit ist hier aber nicht, Bilanz über Soll und Haben zu ziehen, sondern Vergänglichkeit zu bedenken und Ewigkeit zu erhoffen. Am Ende des Tages möge der Rückblick einsichtig sein, dass nichts bleibt und alles vergeht, der Ausblick aber gläubig, dass alles verheissen ist und nichts verdient. Nur dem, der aufs Unverdienbare setzt, ist das Ende des Tages nicht shutdown sondern unlock, nicht Kontrollverlust sondern Lebensgewinn, nicht das Ende vom Lied sondern dessen zuversichtlicher Auftakt.
Entsprechend sang der Nachtwächter, als es ihn noch gab und der Klang ihrer Glocken noch der Stolz einer Stadt waren: „Hört ihr Leut, und lasst Euch sagen: / unsre Glock hat Eins geschlagen! / Eins ist allein der ein´ge Gott, / der uns trägt in aller Not.“ Strukturieren, Kontrollieren, Bilanzieren, diese drei sind sinnvoll, keine Frage, doch wehe dem, der meint, damit Zukunft im Griff zu haben und ihrer Not zu entgehen. Schon im Morgengrauen könnte der ein’ge Gott vonnöten sein. Obwohl er nur einer ist, ist er es, der zählt.
MK
Ein Wort fliesst dieser Partei derzeit flüssig durch die Feder und mit absichtsvollem Geifer auch über die Lippen: Diskriminierung. Nun also diskriminiert für einmal nicht das hinterlistige Europa die lautere Schweiz, sondern der machtgierige Bundesrat seine harmlosen Bürger. Man ahnt, wie mit diesem Wort Emotionen aufgewirbelt werden, und verwendet es am besten ohne Erklärung, was es bedeutet, und so auch gegen dessen Sinn: «Der Bundesrat spaltet die Bevölkerung in ‚gute‘ Geimpfte und ‚böse‘ Ungeimpfte. Mit der Zertifikatspflicht diskriminiert der Bundesrat unzählige Menschen. Wer sich nicht impfen lassen will oder kann, wird vom sozialen Leben ausgeschlossen. Wer sich nicht impfen lässt, wird geächtet. Daran zerbrechen Familien und Freundschaften.» Spaltung und Ausschluss, Ächtung und Zerbruch: Die Windmaschinen des Schmierentheaters laufen schon in Punkt 1 von 6 auf hohen Touren.
Dabei hat sich die Weltgemeinschaft der Völker eine Definition des Begriffs gegeben, die für ihre Mitglieder, falls sie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte achten, seit 1949 ethisch auch verbindlich ist: Demnach ist Diskriminierung ein Verhalten, «das auf einer Unterscheidung basiert, die aufgrund natürlicher oder sozialer Kategorien getroffen wird, die weder zu den individuellen Fähigkeiten oder Verdiensten noch zum konkreten Verhalten der individuellen Person in Beziehung stehen». Ich kann also nur wegen etwas diskriminiert werden, für das ich nichts kann! Hautfarbe zum Beispiel, Herkunft, Sprache, Sexualverhalten, Behinderung, Armut usw. Wofür ich aber etwas kann, zum Beispiel mich impfen zu lassen, um mich und andere vor einer Krankheit mit hoher Todesrate zu schützen, oder, solange keine gesetzliche Impfpflicht besteht, die Impfung zu verweigern, dafür kann ich nicht diskriminiert werden.
Ein Gesetz, das der Bekämpfung einer Seuche dient, kann keine Diskriminierung sein, solange ich die Möglichkeit habe, die Seuche durch Impfung selbst auch zu bekämpfen! Hingegen ist die willkürliche Verwendung, die diese Partei vom Begriff Diskriminierung macht, nichts anderes als Demagogie. Das zeigt sich auch darin, dass es dieselbe Partei war, die eben ein Ende der Diskriminierung von Lesben und Schwulen abgelehnt hat.
MK
Mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Unternehmungslust pflegen sie von ihr zu reden, wenn eine Journalistin sie fragt: der neue Kanzler, nachdem der alte wegen Korruptionsverdacht zurücktreten musste; die Jungunternehmerin, wenn sie ihr start-up vorstellt; der Spitzensportler, bevor er am gleichen Tag zweimal auf den Mont Ventoux radelt; die Kuratorin, die als erste Frau ihre Stelle am renommierten Museum antritt. Von der grossen Herausforderung, die man zu meistern habe, reden sie. Dieses Wort, oft auch challenge, boomt. Kein Tag ohne.
In Mythen und Märchen waren es Heldinnen und Helden, die noch leibhaftige Herausforderer hatten: Götter und Geister, Unholde, Hexen und Trolle. Herausforderung war Kampfansage. Abenteuer waren zu bestehen: Geliebte zu gewinnen, Feinde zu schlagen, Unheil abzuwenden. Leben war Kampf. Man musste ihn bestehen oder blieb auf der Strecke. Herausforderung war ein Lebenskampfmotiv.
Aber heute? Der neue Kanzler steht vor der Bewährung staatstragender Tugenden, die Jungunternehmerin vor einer Durststrecke hoher Risiken, der Spitzensportler vor einer extremen Kraftanstrengung, die Kuratorin vor der Überwindung von Vorurteilen. Sind das Kampfansagen? Ist das Lebenskampf? Oder wird nur dick aufgetragen? / Echte Herausforderungen sind viel weniger pathetisch, dafür aber wirklich lebensbedrohlich, nicht medienträchtig als heroisch taxiert, dafür aber Gelegenheiten echten Heldentums: Eine Heldin die afrikanische Mutter, die täglich Stunden unterwegs ist, um für ihre Kinder Wasser und Hirse zu beschaffen. Ein Held der Asylant, der mit einem Stuhl den Amokläufer hindert, weiter blind zuzustechen. Helden alle, die sich mit Erzfeinden versöhnen, auf die Knie gehen vor unvergesslicher Schuld, um Vergebung bitten können.
Für Herausforderungen gilt Adalbert Stifters sanftes Gesetz: Die Milch, die im Topf der Tagelöhnerin überkocht, folgt demselben Gesetz, das einen Vulkan zum Ausbruch bringt. Nur dass niemand die täglichen Meisterinnen und Meister so taxiert. Überleben geht ohne Pathos, bringt aber die wahren Heldinnen und Helden hervor.
MK
Nun sind sie wieder da, die Taliban. Afghanistan, hört man, drohe um zwanzig Jahre zurückzufallen, ja, Kommentierende in unseren Medien sprechen gar von der Rückkehr des Steinzeitislam. Das sollten sie nicht tun, finde ich, nicht im öffentlich-rechtlich gesicherten Rahmen, nicht in solcher Verantwortung. Eine propagandistische Entgleissung, und eine intellektuelle Nullnummer!
Das Wort Steinzeit soll nicht nur einen uralten Zustand signalisieren: etwas, das allenfalls ins Museum für Paläontologie gehört, aber so wenig in die Postmoderne wie Dinosaurier. Es soll vor allem einen primitiven Zustand suggerieren: fehlende Bildung und Entwicklung, fehlende Kultur. Ob das neue Unwort dem Stand moderner Steinzeitforschung gerecht wird, müssen Paläontologen beantworten, ich bezweifle es. Vom Stand der Theologie und Soziologie ist es völlig unbeleckt: Fundamentalismus gibt es, theologisch betrachtet, in jeder Religion! Und kein Fundamentalismus ist, soziologisch betrachtet, eine Frage der Entwicklung! Wörter wie Steinzeitchristentum oder Steinzeitökonomie liessen sich ebenso prägen und wären ebenso propagandistisch. Auch unter Intellektuellen gibt es Fundamentalismus, sogar besonders elaborierten.
Er ist eine Denkform. Sie ist weder religiös noch zeitlich festgelegt. Ihre Merkmale sind Autoritarismus, Dualismus und Purismus, und alle drei sind unhinterfragbar. Wer dennoch fragt, erkennt absolutistische Strukturen, Gedankenwelten in Schwarz-Weiss-Mustern und zwanghafte Reinheitsvorstellungen. Niemand muss das eigene Land verlassen, um derlei zu finden, und wer vom sicheren Pult ein solches Unwort hinausposaunt, könnte echten Mut zeigen, indem er Betroffenen hilft.
Oder er könnte den Dialog mit landeseigenen Fundamentalisten sucht: christlichen Puristen etwa, die am liebsten lgbt-freie Zonen einrichten würden, christlichen Dualisten, die ergebnisfreie Lust als sündig und krank diffamieren, christlichen Autoritäten, die noch immer Weisheit mit Weisshaarigkeit verwechseln. Warum in die afghanische Ferne schweifen, sieh, das Böse liegt so nah. (Hoffentlich erfindet keiner das Unwort Steinzeitjournalismus?)
MK
Jemand schreibt mir, den das Wort Überalterung ärgert. Mich ärgert im gleichen Moment das Wort Übersterblichkeit, das zu diesen Jahren gehört, in denen die Natur ausser Rand und Band zu geraten scheint, mikrokosmisch durch das Virus und makrokosmisch durch den Klimawandel. Der Natur folgt die Statistik. Beide scheinen Mass und Mitte verloren zu haben, auch so ein Wort dieser Jahre, rhetorisch ein hendiadyoin: eine Aussage in zwei Wörtern, alliterierend und wachsend. Überaus schön. Gute Miene zum bösen Spiel.
Wortbildungen mit Unter und Über setzen Mass und Mitte voraus, ja, sie beanspruchen sogar Definitionsmacht, denn unbemerkt legen sie fest, was normal ist. Wie bei der Überschwemmung ein Übermass an Wasser über ein Tal kommt, wird bei der Überalterung die Gesellschaft mit einem Übermass an Alten überfordert oder bei der Übersterblichkeit mit einem Übermass an Toten überlastet. Über heisst statistisch: deutlich mehr als normal.
Ist es ethisch aber richtig, Mass und Mitte als Norm festzulegen? So, dass ein schlechtes Gewissen haben muss, wer in der Schweiz als Frau 86 oder als Mann 82 geworden ist: Beide sind bereits überaltert, unnormal lebendig, masslos. So dass ein gutes Gewissen haben kann, wer in der Politik wirkungsvolle Massnahmen gegen das Virus ergriffen hat: Er bekämpft das Übermass an Toten, entlastet Intensivstationen und Krematorien, beruhigt Versicherungen.
Nein, Statistik und Ethik dürfen nicht gleichgeschaltet werden. Was statistische Norm ist, kann nicht automatisch ethische Devise werden: Eine überaltete Neunzigjährige, die von der shoa erzählen kann, ist womöglich lebendiger als eine unteralterte Zwanzigjährige, die nur selfies einstellt. Und der tote, übersterblich gewesene und elendiglich erstickte Inder drückt seiner Gemeinde hoffentlich aufs Gewissen, ihre Infrastruktur so lange sorgfältig auszubauen, bis ihr Untersterblichkeit droht.
Aber was schreibe ich da: die Wörter unteraltert und untersterblich gibt es ja gar nicht, warum eigentlich?
MK