in der Mitte der Gesellschaft angekommen
Sie sei in der Mitte der Gesellschaft angekommen, sagt die Alleinerziehende, und Erleichterung ist ihrer Stimme anzuhören. Wo war sie denn vorher? Am Rand? Ich lese und höre die Wendung täglich. Doch, wo liegt die Mitte der Gesellschaft? Ein Stadion kommt mir vor Augen, in der Mitte der Punkt, wo das Spiel beginnt, und auf allen Seiten vollbesetzte Tribünen, wo frenetisch applaudiert wird. Liegt sie dort?
Politisch gibt es sie seit den Siebzigern: Seither drängen sich vor einer Wahl alle Parteien, jede als Partei der Mitte, genau dort, stehen sich gegenseitig auf den Füssen und profilieren sich, indem sie Parteien am rechten und linken Rand diffamieren. Soziologisch gibt es sie auf der Karte der Lebenswelten: Überall in Mitteleuropa repräsentiert die bürgerliche Mitte das grösste Milieu. Geographisch ist sie ausgemessen: Die Mitte der Schweiz liegt seit 1988 auf der Älggi-Alb in Obwalden. Wo aber ist die Mitte der Gesellschaft?
Es geht um Anerkennung, denke ich: Vom vernachlässigten Rand zur Mitte hin steigt sie. Um Wahrnehmung: Aller Augen ruhen auf dem Zentrum, Peripherie ist quantité négligeable. Um Ankommen: Bin ich mal dort, bin ich endlich wer. Scheinwerfer und Kameras, die Aufmerksamkeit der Nation, sind auf den Anstosspunkt gerichtet. Wer dort nicht ist, spielt nicht mit.
Das allerdings ist nicht biblisch, nicht demokratisch, nicht schweizerisch, sondern anstössig! Die Qualität des echten David erweist sich an seiner Sorge für Randständige. Demokratie lebt vom Ausgleich zwischen Peripherie und Zentrum. Die Schweiz ist stark in ihrer Vielfalt. Die Mitte aber ist, wenn das Spiel abgepfiffen ist, bald wieder eine trostlose Einöde.
MK