Der Titel des neuen Buchs von Rainer Stuhlmann ist Programm. Fünf Jahre war der Pfarrer i.R. Studienleiter des internationalen ökumenischen Dorfes Nes Ammim, zur Zeit ist er kommissarischer Propst in Jerusalem. Nachdem er in seinem ersten Buch mit „Alltagsnotizen eines Christen in Israel und Palästina“ seinen Standpunkt im Nahostkonflikt als „Zwischen den Stühlen“ markiert hat, präsentiert er nun „Hoffnungsgeschichten aus einem zerrissenen Land“. Sie sollen zur Versachlichung der Debatte über den Nahostkonflikt beitragen. Denn in Deutschland hat er in eigener Person die Schärfe der Auseinandersetzung erlebt, die selbst viele Israelis und Palästinenser_innen schockiert. Nicht zuletzt aus diesem Grund stehen hier Erfahrungen und Gedanken zu Entfeindung im Vordergrund.
Als Kompass dient Stuhlmann ein Gedicht von Jehuda Amichai, in dem es heißt:
An dem Ort, an dem wir recht haben,
werden niemals Blumen wachsen
im Frühjahr.
Der Ort, an dem wir recht haben
Ist zertrampelt und hart
Wie ein Hof.
Zweifel und Liebe
Lockern die Welt auf
Wie ein Maulwurf...
Stuhlmann möchte mit seinem Buch den Beton in den Köpfen aufbrechen, und dazu ermutigen, einmal „in den Schuhen des anderen“ zu gehen. Seine Geschichten bringen ein „andere Gesicht“ Israels und Palästinas zum Leuchten, das in den Medien gemeinhin übersehen oder absichtlich verschwiegen wird.
Am Beginn steht die Begegnung mit der palästinensisch christlichen Familie Nassar. Sie besitzt – urkundlich dokumentiert – seit 1916 einen Weinberg in der Nähe von Bethlehem, heute umringt von fünf jüdischen Siedlungen. Mit rechtlichen und gewaltfreien Mitteln setzt sich die Familie gegen eine Enteignung und gegen die gewalttätigen Angriffe von Siedlern und israelischem Militär zur Wehr. Gewaltfrei heißt aber nicht untätig: Die Nassars laden Nachbarn und internationale Gäste zu Besuchen, praktischer Arbeit und Bildungsangeboten auf ihr Grundstück ein, das sie „Zelt der Nationen“ nennen. Wer der Einladung folgt kommt am Eingang an einem großen Stein vorbei, der die Aufschrift trägt: „Wir weigern uns, Feinde zu sein“ – das Motto, nach dem die Familie Nassar lebt.
Von diesem Motto lassen sich auch verschiedene Menschenrechtsorganisationen und Initiativen auf israelischer und palästinensischer Seite leiten, die Stuhlmann anhand konkreter Beispiele ihrer Arbeit vorstellt.
Auch im Kontakt mit palästinensischen Christ-innen lernt Stuhlmann, was es heißt, sich trotz schmerzhafter Erfahrungen nicht zu Hass und Feindseligkeit hinreißen zu lassen. Sie konfrontieren ihn mit einem Israelbild, das nicht von der europäischen, und besonders der deutschen Schuldgeschichte gegenüber Juden geprägt ist, sondern von dem Leiden unter jüdischer Machtausübung. Stuhlmann erzählt die Geschichte der christlichen Dörfer Iqrit und Birim, die trotz Neutralitätsbekundung im Unabhängigkeitskrieg vollkommen zerstört worden sind. Die vertriebenen Bewohner_innen und ihre Nachkommen versuchen seither gerichtlich und durch gewaltfreie Aktionen ein Rückkehrrecht zu erstreiten. Auch hier wird Gewaltfreiheit erfinderisch tätig. Führungen durch die zerstörten Dörfer halten die Erinnerung wach und der jährliche Gedenkgottesdienst wird zum stärksten Protest gegen das erlittenen Unrecht.
Auch die prekäre Situation der christlichen Palästinenser_innen als „Minderheit einer Minderheit“ macht Stuhlmann anhand von Beispielen anschaulich. Seine eigene theologische Skepsis gegen evangelikale Christ-innen wird bei einer der internationalen Konferenzen „Christus am Grenzkontrollpunkt“ erschüttert, zu denen das Bible College in Bethlehem einlädt. Wie von Evangelikalen zu erwarten, bekennen sie innig: „Wir gehören Christus!“. Aber dann folgt unerwartet der Satz: „Aber Christus gehört nicht uns!“.
Seine Erfahrungsberichte verknüpft Stuhlmann mit biblischen Reflexionen. In eigenen Abschnitten stellt er das Judentum als Religion der Freiheit vor. Er macht deutlich, dass Feindesliebe zuerst ein jüdisches Gebot ist, und biblisch gut begründet entkräftet er antijüdische Klischees, die immer noch oder schon wieder verbreitet sind. Dabei gelingt es ihm, auch für komplizierte Sachverhalte eine Sprache zu finden, die theologischen Laien gut verständlich ist.
Dem Kapitel, das den Sympathisanten gewidmet ist, spüre ich noch Spuren der Verletzung ab, die Stuhlmann durch die heftigen Angriffe auf seine Haltung erlitten hat. Nach dem Essay zum 70 jährigen Bestehen des Staates Israel, das zunächst einer gottesdienstlichen Arbeitshilfe der EKiR vorgeschaltet war, musste er sich mehrfach gegen den öffentlichen Vorwurf verteidigen, er sei ein Antisemit. Eine besonders schmerzliche Erfahrung, die er in seinem Denkanstoß: „Sind Sie Antisemit?“ ausführlich reflektiert.
Stuhlmann erscheint es hilfreich zur Versachlichung der Diskussion, von beiden Seiten alle Etiketten zu vermeiden. Faire Kritik an Israel ist inhaltlich daran zu messen, dass doppelte Standards, Dämonisierung, Delegitimierung (three D Antisemitism) nicht vorkommen. Bei aller Kritik an Israel oder Palästina soll deutlich sein, dass sie nicht feindlich ist und bereit, sich Argumenten zu öffnen. Daher sollten Sympathisanten der einen oder anderen Seite sollten nicht nur unter sich bleiben.
Stuhlmann selbst bekräftigt die umstrittene These des Rheinischen Synodalbeschlusses von 1980, der in dem Staat Israel ein „Zeichen der Treue Gottes“ sieht. Aber er macht deutlich, dass damit nicht eine Heiligsprechung Israels und seiner Politik gemeint ist: „Die Treue Gottes zu seinem Volk bezieht sich auf eine der vielen Funktionen dieses Staates, nämlich seine Schutzfunktion...Dass das Judentum sich aller Anfeindung und Verfolgung zum Trotz behauptet hat, dazu hat nicht nur – aber auch – die Errichtung des Staates Israel beigetragen.“
Ich habe das Buch Stuhlmann sehr gern gelesen und viel dazugelernt. Es gelingt ihm, seine Position der doppelten Solidarität überzeugend zu vermitteln und Feindbilder zu erschüttern. Seine Geschichten sind durchzogen von großem Respekt für die Menschen in Israel und Palästina, die für die Verständigung beider Völker arbeiten, und seine theologischen Beiträge spiegeln Stuhlmanns Liebe zur Bibel, die der Hoffnung auf Entfeindung in diesem zerrissenen Landstrich verlässlichen Grund gibt.
Wir weigern uns, Feinde zu sein
Hoffnungsgeschichten aus einem zerrissenen Land
von Rainer Stuhlmann
Neukirchener Verlage
ISBN: 9783761565049
223 Seiten, 1. Auflage
14,99 €