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'Geht auf dem Weg'
Predigt zum Ökumenischen Bibelsonntag
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus! AMEN.
Liebe Gemeinde,
von Montag bis Freitag vergangener Woche haben wir uns - wie jedes Jahr - zur Ökumenischen Bibelwoche Tempelhof versammelt und gemeinsam diesmal Texte aus dem 5. Buch Mose gelesen. Wenn ich “wir” sage, dann sind damit diejenigen gemeint, die eingeladen und die Abende inhaltlich gestaltet haben: Pfarrerin Mayer, Pfarrer Schlosser, Pfarrer Seegenschmiedt, Diakon Markgraff-Kosch und ich; und natürlich ebenso jene, die sich haben einladen lassen: eine Handvoll Protestanten aus der Paulusgemeinde und aus Mariendorf, ein Freikirchler sowie einige Leute aus der katholischen Gemeinde Herz-Jesu.
Die fünf Abende fanden im Kirchsaal in der Götzstraße statt und wurden mit Plakaten und Abkündigungen sowie einem Artikel auf unserer Website beworben; im Gemeindebrief fand sich leider nur eine schmale Notiz, weil bei Redaktionsschluß noch nicht alle Details feststanden. Das ist natürlich ein Versäumnis, doch erklärt das allein meines Erachtens nicht, weshalb eine solche Veranstaltung quasi unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfindet.
Wer mich kennt (und nach acht Jahren kennt man den Pfarrer seiner Gemeinde, und sei es aus den Berichten anderer), der weiß, daß ich kein klassischer Frömmler bin, sondern mich darum bemühe, die Botschaft von damals für heute zu erschließen. Und bei allen Unterschieden zwischen den verantwortlichen Theolog*innen kann gesagt werden: Das haben wir alle getan. Weshalb also stößt solch ein Vorhaben auf so wenig Interesse, wo es unter uns doch zahlreiche Engagierte gibt, die bei “Laib und Seele” mithelfen, in der Kantorei singen, Kirchdienst machen, in der Gemeindeleitung Verantwortung übernehmen und vieles mehr? Hätte es womöglich mehr Aufmerksamkeit erregt, wenn wir die Inhalte deutlicher herausgestellt hätten? - Immerhin ging es um so wichtige Texte wie die zehn Gebote, das Glaubensbekenntnis Israels und die Frage nach Segen und Fluch, Leben und Tod!
Heute möchte ich versuchen, an die Gespräche der vergangenen Tage anzuschließen und die Auseinandersetzung mit dem Buch Deuteronomium - bei Luther: 5. Buch Mose - so abzuschließen, wie es diejenigen vorgesehen haben, die das Material zu Bibelwoche und Bibelsonntag erarbeitet und bereitgestellt haben. Freilich ist es noch immer nicht möglich, an einem Sonntag ökumenisch Gottesdienst zu feiern. Gleichwohl habe ich die liturgischen Elemente weitestgehend übernommen, die für eine überkonfessionelle Gottesdienstfeier erdacht worden sind. Ein beinahe größeres Hindernis scheint mir, daß wir hier als eine Gottesdienstgemeinde versammelt sind, die ein Kapitel aus dem besagten Buch aufschlagen, ohne dessen Bewandtnis zu kennen.
Das läßt sich nun auch nicht in wenigen Sätzen nachholen; damit müssen wir jetzt leben, wenn wir nun den Schluß des fünften Kapitels aufschlagen - jenes Kapitels also, in dem ein zweites Mal in der Heiligen Schrift die 10 Worte des Gesetzes Gottes geschrieben stehen, was dem gesamten Buch seinen Namen - Wiederholung des Gesetzes - verliehen hat.
Ich lese die Verse 23 bis 33 in der Übersetzung der Bibel in gerechter Sprache:
23 Als ihr die Stimme mitten aus dem Dunkel hörtet und der Berg brannte, da kamen alle Oberen der Stämme und eure Ältesten auf mich zu 24 und sprachen: ›Siehe, Adonaj, unsere Gottheit, hat uns ihren Lichtglanz und ihre Größe sehen lassen, und ihre Stimme haben wir aus der Mitte des Feuers gehört. Heute haben wir zwar erlebt, daß Gott mit Menschen spricht – und sie überleben.
25 Nun aber, warum sollen wir sterben? Schließlich wird dieses große Feuer uns doch verzehren! Wir sterben, wenn wir weiterhin die Stimme Adonajs, Gott für uns, hören. 26 Welches Lebewesen aus Fleisch und Blut, das wie wir die Stimme der lebendigen Gottheit aus der Mitte des Feuers hört, kann überleben?
27 Nähere du dich und bringe alles in Erfahrung, was Adonaj, Gott für uns, spricht. Dann teile du uns mit, was Adonaj, Gott für uns, mit dir gesprochen hat. Das wollen wir hören und uns danach richten.‹
28 Adonaj hörte alles, was ihr mit mir gesprochen habt, und Adonaj sagte zu mir: ›Ich habe alles gehört, was dieses Volk mit dir gesprochen hat. Es ist alles gut, was sie gesagt haben. 29 Wenn es nur möglich wäre, daß sie ein solches Herz und einen solchen Verstand hätten, daß sie mich achteten, Zeit ihres Lebens meine Gebote befolgten, ihnen und ihren Nachfahren zum Besten – und das für immer!
30 Geh und sprich zu ihnen: „Kehrt in eure Zelte zurück!“ 31 Bleibe du aber bei mir stehen. Ich werde dir alle Gebote, Bestimmungen und Rechtssätze mitteilen, die du sie lehren sollst, damit sie sich in dem Land danach richten, das ich ihnen übergebe, so daß sie es in Besitz nehmen können.‹
32 Bewahrt und richtet euch nach dem, was Adonaj, eure Gottheit, euch befohlen hat. Weicht davon nicht ab, weder zur Rechten noch zur Linken! 33 Geht auf dem Weg, den Adonaj, eure Gottheit, euch vorgeschrieben hat, damit ihr lange lebt und es euch gut geht in dem Land, das ihr in Besitz nehmt.
Liebe Geschwister, das Teilnehmendenheft der Ökumenischen Bibelwoche trägt die sehr klug gewählte Überschrift: “Vergeßt nicht!”
Das ist die Grund-Intention des Deuteronomiums:
Mehrere Jahrhunderte nach der Befreiung aus Ägypten, inmitten oder direkt nach der Katastrophe eines verlorenen Krieges, Zerstörung des Jerusalemer Tempels, Vertreibung aus der Heimat, jahrzehntelangen Exils wird aus der Perspektive Gottes die Bundesgeschichte noch einmal auf “Anfang” gestellt - als wäre man noch immer mit Mose auf dem Weg in die Freiheit, als stünde die Landnahme und Besiedelung Palästinas erst noch bevor, der Beginn des Königtums unter Samuel und Saul, die große Zeit unter König David und seinem Sohn Salomo, der den Tempel erbauen ließ, dann aber auch der kontinuierliche Niedergang und Fall erst des Nordreiches Israel und schließlich auch Judas.
Die Texte strotzen vor Anspielungen auf die Geschichte Israels, insbesondere dort, wo davor gewarnt wird, falsche Wege zu beschreiten, die in den Untergang führen müssen.Es klingt über weite Strecken so, wie wenn jemand in Deutschland in der unmittelbaren Nachkriegszeit - oder auch heute - einen Text verfaßt und verbreitet hätte, der sich den Anschein gibt, in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts vor den fatalen Folgen des heraufziehenden Nationalismus und Judenhasses zu warnen, der schließlich zu Krieg und Völkermord führte. Wobei das ja heute durchaus am Platz ist - Gott sei es geklagt.
Und noch mehr geklagt sei, daß trotz der gemachten Erfahrung monströser Unmenschlichkeit und unermeßlichen Leides noch immer - und immer wieder mehr - Menschen darüber hinweggehen, einen Schlußstrich fordern oder eine 180°-Wende in der Betrachtung unserer Vergangenheit - Stichwort “Fliegenschiß”. “Wer die Vergangenheit beherrscht, beherrscht die Zukunft. Wer die Gegenwart beherrscht, beherrscht die Vergangenheit”, heißt es in dem düsteren Klassiker “1984" von George Orwell, geschrieben unter dem Eindruck des Stalinismus, aber leider unverändert aktuell, wenn man den erbitterten Meinungskampf um die Deutung unserer Geschichte betrachtet oder auch auf andere Länder blickt, etwa in die Türkei, wo weiterhin staatlich verordnet wird, den Völkermord an den Armeniern während des Ersten Weltkrieges zu leugnen.
Und nun also: “Vergiß es nicht - denke daran!” Ich möchte noch einen Satz des britischen Schriftstellers Orwell zitieren - wohlgemerkt: in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts geschrieben: „In Zeiten der universellen Täuschung wird das Aussprechen der Wahrheit zur revolutionären Tat.“ Fake news - daran haben wir uns beinahe schon gewöhnt. Mühsam das Geschäft, die Spreu vom Weizen zu trennen! Und: Irgend etwas bleibt meistens hängen von Gerüchten und Übertreibungen, die in unserer Aufregungskultur gang und gäbe geworden sind.
Auch unsere biblische Geschichte mutet märchenhaft an: Mose allein, so möchte man meinen, erträgt es, dem Ewigen ins Angesicht zu schauen; alle anderen gehen in Deckung, verbergen sich hinter ihrem Wortführer, der den heiklen Job übernimmt, zwischen Gott und seinem Volk zu vermitteln. Aber jenseits dieser altertümlichen Bilder von einem Emissär, der Gott die Stirn bietet und anschließend zu dessen Sprachrohr wird, steckt zumindest eine Ahnung davon, daß wir es nicht mit einem “lieben Gott” zu tun haben, wo es um alles oder nichts geht, um Leben und Tod. Und um nichts Geringeres geht es hier, geht es eigentlich immer, wenn es um Gott geht.
“Warum sollen wir sterben?”, fragen die Israeliten, und zwar nicht, weil sie ein schlechtes Gewissen haben, sondern weil es für sie als ausgemacht gilt, daß niemand am Leben bleibt, der sich Gott zu sehr nähert. Es wird also ein Mutiger voran geschickt. Der hört zu und richtet aus, was Gott zu sagen hat. Und was hat er seinen Leuten auszurichten?
28 Adonaj sagte zu mir: ›Ich habe alles gehört, was dieses Volk mit dir gesprochen hat. Es ist alles gut, was sie gesagt haben. 29 Wenn es nur möglich wäre, daß sie ein solches Herz und einen solchen Verstand hätten, daß sie mich achteten, Zeit ihres Lebens meine Gebote befolgten, ihnen und ihren Nachfahren zum Besten – und das für immer!
Dem ist im Grunde nichts hinzuzufügen bis auf den heutigen Tag. “Es ist alles gut, was sie gesagt haben,”bestätigt Gott. Die Israeliten sind - endlich - auf einem guten Weg. So kann Zukunft gelingen. Wie? Indem sie die Freiheit bewahren, die ihnen geschenkt ist.
Dazu dienen Gottes Spielregeln, die zehn Gebote. Sie dienen - da widerspreche ich Luther - nicht dazu, uns vor Augen zu führen, daß wir allzumal Sünder sind. Nein, Bruder Martin: Sie dienen nicht dazu, uns in die Zerknirschung zu treiben und so in die offenen Arme Christi. Der hat nämlich selber nichts anderes getan, als nach den Weisungen Gottes zu leben - etwas, daß wir ganz offenkundig nicht vermögen, weshalb es in unserem Text wie ein Seufzer Gottes klingt, wenn es heißt: “Wenn es nur möglich wäre, daß sie ein solches Herz und einen solchen Verstand hätten, daß sie mich achteten, Zeit ihres Lebens meine Gebote befolgten.”
Aber Gott ist geduldig, wie es Liebende nun einmal sind, die nicht wollen, daß ihr geliebtes Gegenüber zugrunde geht, sondern kluge Entscheidungen trifft und am Leben bleibt.
33 Geht auf dem Weg, den Adonaj, eure Gottheit, euch vorgeschrieben hat, damit ihr lange lebt und es euch gut geht, heißt es am Schluß.
Man könnte dagegen halten: “Ja, aber das Gebot zu erfüllen, ist nicht nur unmöglich, sondern der bloße Versuch, Gott auf diese Weise gerecht zu werden, ist auf der ganzen Linie gescheitert.” Das hat uns Paulus gelehrt und Luther wiederentdeckt, und auch der Reformierte Karl Barth wurde nicht müde darauf hinzuweisen. Und so heißt es unter uns landauf, landab: “Wir halten uns an den, der um unseretwillen gestorben ist, damit wir leben.” Das klingt fromm, das klingt “christlich” - ist es aber nicht, wenn nicht das andere, das Entscheidende, darin enthalten ist, nämlich auf dem Weg Christi zu gehen, in seiner Nachfolge zu leben.
Das geht nicht ohne Vertrauen auf Gott und Treue zu seinem Wort und Willen, das geht oftmals auch nicht ohne die Bereitschaft, ihm auch dorthin zu folgen, wohin wir lieber nicht gehen möchten. Herr, leite und begleite uns auf allen Wegen, die wir beschreiten, um Jesus Christus nachzufolgen - im Leben und im Sterben.
Amen.
Pfarrer Stephan Schaar