Unser täglich Brot gib uns heute

Predigt zu Matthäus 6, 11


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in der Reihe Einfacher Gottesdienst nach reformierter Tradition - gehalten am 11. Mai 2008 in der Antoniterkirche Köln - von Marten Marquardt

Liebe Gemeinde,

lächäm heißt im Hebräischen das Brot. Lacham heißt im Hebräischen „Krieg führen“. So dicht bei einander liegen Brot und Krieg, Tod und Leben; sie stecken im gleichen Wort, haben dieselbe Wurzel. Und das ist menschheitsgeschichtlich ja wohl immer so gewesen: Brot und Krieg waren immer so dicht bei einander, dass viele, vielleicht sogar die meisten Menschen beim Gedanken an das tägliche Brot auch den täglichen Kampf ums Brot im Herzen hatten, so als müssten sie sagen: unseren täglichen Krieg gib uns heute. Und seitdem wir in unseren Tagen überall von der Rückkehr des Hungers hören und seitdem wir sehen, wie Menschen auf die Straßen gehen, weil sie sogar schon für ihr kleines bisschen Brot kämpfen müssen, erkennen wir die biblische Einsicht wieder, dass Krieg und Brot aus einer Wurzel kommen.

Der Kampf ums tägliche Brot hat die Mehrheit der Menschen schon immer mehr bewegt als uns relativ wohlgenährte Christinnen und Christen auf unserem globalen Platz an der Sonne. Und Kriege um Brot und Wasser werden wohl die Welt unserer Kinder wieder viel stärker bestimmen, als wir es in den trügerischen letzten 50 Jahren bei uns erlebt haben. – Aus dieser Perspektive verstehen wir sofort, warum die nächste Bitte „und vergib uns unsere Schuld“ unmittelbar auf die Bitte ums tägliche Brot folgen muss. Der Zusammenhang ist sprachlich, historisch und sachlich unabweisbar.

Jesus legt uns nun nahe, um das tägliche Brot zu bitten, statt darum zu kämpfen. So unmittelbar sehen wir IHN selten ins politische Geschehen eingreifen. Denn diese Bitte um das tägliche Brot ist nun ein Bruch mit der bisherigen Weltgeschichte. Bevor wir also nur angefangen haben, das Besondere dieser vierten Bitte inhaltlich zu begreifen, hätten wir schon etwas entscheidend Neues getan, wenn wir so beten, statt wie üblich zu agieren und um unser eigenes Brot zu kämpfen. Schon der Akt des Betens wäre so gesehen, ein markanter Knick im einlinig verlaufenden Gang der kriegerischen Weltgeschichte.

Aber es kommt nun doch auch auf die Worte an. Denn unter der Hand schleichen sich da gefährliche Missverständnisse ein. Zwar haben wir den von Jesus vorgegebenen Wortlaut immer beibehalten:

„Unser tägliches Brot gib uns heute“.

Nur beweisen die u. a. vom Christentum geprägten Spuren der europäischen Geschichte, dass wir beim Sprechen ein und desselben Wortlauts unter der Hand doch wohl immer zwei Varianten gemeint haben. Die eine, wenn es reichlich und gut war, hieß:

„Unser heutiges Brot gib uns täglich.“

Die andere, wenn es knapp und nicht so gut war, enthielt einen unausgesprochenen, einen mentalen Vorbehalt:

„Unser heutiges Brot bitte nicht täglich.“

Vor allem die erste Variante war verhängnisvoll in unserer Geschichte bis heute. Wir erhoffen und erbitten insgeheim, dass wir immer wieder so viel und immer wieder so viel Gutes haben werden wie bisher. Auf keinen Fall weniger und keinesfalls weniger genussreich.

Dem gegenüber ist Jesu Formulierung allerdings ganz eindeutig. Das „täglich“ ist eine Rationierung des Brotes. Es heißt: das, was wir für heute brauchen. Nicht mehr, nicht weniger. Eine zentrale biblische Erfahrung steht ja immer im Hintergrund, wenn vom Brot die Rede ist. Es ist die Manna-Geschichte.

Da gab es wieder einmal, wie üblich, Hunger in der Wüste, als die israelitischen Sklaven den beschwerlichen Marsch in die Freiheit angetreten hatten. Und wenn der Magen knurrt, entwickelt die menschliche Phantasie dazu Opern und Arien: Wie schön das doch gewesen sei im Sklavenlager. Fleischtöpfe habe es gegeben; satt sei man geworden und überhaupt alles im Überfluss; alles sei besser gewesen damals! - Der Hunger ist das eine. Diese phantastischen Arien vom guten Gestern sind ein anderes.

Das Hungergeschrei hat Gott gehört. Und damit sie erkennen, dass Adonai Gott ist, werden sie morgen satt zu essen finden, Fleisch und was das Herz begehrt. Und damit sie erkennen, dass Adonai Gott ist, werden sie morgen zwar satt zu essen finden, aber nicht mehr, keinen Überfluss, keine Anhäufung von Kapital aus Brot und Fleisch. Aber die Kinder Israel in der Wüste sind Menschen wie du und ich. Und was machen du und ich, wenn es Essen vom Himmel regnet? Wir horten. Und was macht Gott, wenn wir horten? ER macht es uns madig. Kübel voller Fäulnis. Das ist alles, was den Israeliten am nächsten Tag von ihren angehäuften Vorräten bleibt. (2. Mose 16)

Wenn wir um’s tägliche Brot bitten, dann ist das nach dieser Geschichte immer das bemessene Brot, das für jede und jeden ausreicht, Kommisbrot also. Das ist ja eigentlich der Sinn des Kommisbrots ( von lat. committo: zusammenfügen, anvertrauen): bemessenes, anvertrautes Brot, von dem alle, die ganze Truppe, gleichermaßen verpflegt werden können. Das Brot, das niemand uns madig macht. Die Bitte um das tägliche Brot ist also eine Einübung in die doppelte Bescheidenheit:

  • nur das für diesen Tag lebensnotwendige Brot erbitten wir;
  • und wir bitten um das Kommisbrot, das anvertraute und angemessene Brot, das für alle reichen soll.

Und damit sind wir unversehens beim ersten Wort unserer Bitte angelangt. „Unser tägliches Brot gib uns heute“. Vielleicht ist Ihnen schon längst aufgefallen, dass wir hier zum zweiten Mal im Vaterunsergebet das „besitzanzeigende Fürwort“ unser gebrauchen. Bei der Anrede hatten wir schon in der ersten Predigt genau über dieses Wort nachgedacht und gefunden, wie wichtig es ist, dieses unser inklusiv zu verstehen. ER ist der Vater aller Menschen. Und wenn wir IHN als unseren Vater ansprechen, dann verbünden wir uns schon in der Anrede Gottes mit allen Menschen der Erde, mit allen Seinen Geschöpfen. Wir sprachen dabei von der „internationalen Solidarität“, die hier anklingt, wo Menschen mit Bedacht das Vater unser sprechen. –

Und nun kommt dieses solidarische Wort unser bei der ersten Bitte, die unsere eigenen Belange betrifft, sofort wieder. Nun kann es hier kein bisschen unverbindlicher sein als da, wo wir von Gott sprachen. „Unser tägliches Brot“, das ruft nun wieder, nun vielleicht noch unmittelbarer, nach internationaler Solidarität. Wer hier nur an sein eigenes Brot dächte, hätte von Anfang an alles missverstanden. Wir bitten um unser tägliches Brot und meinen uns alle auf dem kleinen Globus, die im Süden, die im Norden, die Oberen und die Unteren, die Großen und die Kleinen.
 
Aber jetzt müssen wir besonders aufpassen, dass es nicht zynisches Geplapper wird. Denn wir wissen ja längst ganz genau, dass das gar nicht gehen könnte, wenn alle Menschen dieser Erde unser heutiges Brot täglich essen wollten. Daran würde die internationale Wirtschaft zerbrechen. Und wir erleben ja zur Zeit die ersten Vorzeichen eines solchen möglichen Zusammenbruchs. China und Indien z. B. mit ihren vielen Menschen holen auf und bei uns wird die Milch knapper und die Preise steigen spürbar an. Wir wissen heute ganz genau, wenn alle Menschen unserer Erde unser heutiges Brot täglich auch essen wollen, dann reicht es nicht mehr für alle, dann zerbricht die internationale Solidarität sehr bald. Es wäre also zynisches Geplapper, wenn wir diese Bitte des Herrengebets weiter unbedacht und unkritisch hersagen wollten, obwohl wir wissen, dass Gott nicht allen unser heutiges tägliches Brot und beefsteak geben kann. 

Es wäre zynisches Geplapper, so zu beten, wenn wir nicht wahrnehmen wollten, dass diese Bitte gegen uns selbst gerichtet ist, dass wir sie selbst gegen uns richten müssen, dass sie uns selbst richten wird, wenn wir uns nicht nach ihr richten wollen. Es gibt nur eine Möglichkeit, diese Brotbitte ohne Menschenverachtung zu sprechen, nämlich sie so zu beten: Nur unser täglich notwendiges Brot gib uns heute, denn nur dann können die anderen auch ihr tägliches Brot bekommen. Es geht also nur, wenn wir die Brotbitte als eine einzige Einschränkungs- und Umkehrbitte verstehen! Wenn wir aber nicht bereit sind, gegen unseren eigenen Überfluss zu beten, dann können wir überhaupt nicht mehr beten.

Der russische Philosoph Nikolai Berdjajew hat diesen Zusammenhang ebenso knapp wie einprägsam formuliert:

DAS EIGENE BROT IST EIN MATERIELLES PROBLEM
DAS BROT DES NÄCHSTEN ABER EIN GEISTLICHES.

Das ist knapp und einprägsam formuliert. Aber es hat einen Haken. Die Unterscheidung in Materielles und Geistliches ist gerade hier eben doch sehr missverständlich. Es sind ja nicht zwei Brote. Es gibt ja nicht eine materielle Ernährung, die mit der geistlichen Speise nichts zu tun hätte. Es gibt ja nicht ein Reich des Geistes, das mit dem Reich des Leibes, mit den körperlichen Dingen nichts zu tun hätte. Unsere Seele ist ja nicht freischwebend unabhängig von unserem Leib. Es gibt ja auch kein Pfingstfest, das nur vom Heiligen Geist und nicht auch vom Brot für die Welt zu reden hätte.

Und darum ist auch unser eigenes materielles Brot, unsere eigene tägliche Ernährung schon ein geistliches Problem. Und genau darauf zielt die Brotbitte des Vaterunsers. Und wenn ich hundertmal Lust auf Fleisch und Überfluss hätte: ich bitte um das tägliche, um das für heute bemessene und angemessene Kommisbrot. Das geistliche Problem beginnt eben bereits bei unserem eigenen materiellen Brot. Nur wenn wir das einbeziehen, nur wenn wir aufhören, Leib und Seele, Materielles und Geistliches so auseinander zu reißen, als wären das zwei getrennte Reiche in unserer Welt, nur dann können wir um das tägliche Brot in Jesu Sinn recht beten. Und dann erhebt sich natürlich die Frage, ob wir denn angesichts großer Fleischplatten unter unserer Nase überhaupt ein Tischgebet im Sinne dieser Bitte sprechen können, ohne zynisch zu werden.

Im Museum von Schloss Burg an der Wupper gibt es einen großen, wunderbar gearbeiteten Zinnteller, der nur für besonders opulente und feierliche Schlossfeste mit fetten und süßen Speisen benutzt wurde. Der Tellerboden zeigt innen in eindrucksvoller Gestaltung die Geschichte aus dem 1. Buch Mose, Kapitel 3, die Geschichte vom Sündenfall. Aber zu Beginn des Festmahls ist diese Geschichte von den darauf servierten Braten noch verdeckt; man sieht sie erst, wenn alles gegessen und kein Fleisch mehr übrig ist. Und dann kann die geistliche Erinnerung an den Sündenfall höchsten noch nachträglich ein bisschen Sodbrennen verursachen, aber aufgegessen ist alles. – Das ist ein deutliches Bild dafür, dass wir die materiellen Fragen von den geistlichen eben nicht trennen können, weder durch zeitliches Nacheinander, noch durch ein räumliches Übereinander. Das Fleisch auf dem Teller verdeckt die geistliche Frage, solange es da ist. Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral. Und nachfolgende Moral verursacht nur noch ein bisschen Sodbrennen im Nachhinein. Das lässt sich physisch mit Glaubersalz und psychisch mit Glaubenssalz leicht beheben.

Ganz anders kann man das in unserer Partnerstadt Liverpool erleben. Dort hat die kleine Methodistische Gemeinde ihrer Pfarrerin Barbara Glasson den Auftrag gegeben, mitten in einer problematischen Zone der Liverpooler Innenstadt eine Gemeinde aufzubauen; ihr wurde zum Gemeindeaufbau nichts zur Verfügung gestellt, keine Räume, kein Büro, kein Team, nur ein bescheidenes Geld für den eigenen Lebensunterhalt. Und da hat sie Menschen auf der Straße angesprochen und hat sie in einen kleinen angemieteten Raum zum Brotbacken eingeladen. Da kamen Arbeitslose und Angestellte, Alkoholiker und Junkies, Sekretärinnen und Verkäuferinnen. Und nun trifft man sich, backt Brot zusammen, immer eins für sich und zwei zum Verschenken.

Man erzählt sich beim Teichkneten Backgeschichten, man tauscht Hungererfahrungen aus und man bespricht kleine und große Initiativen; daneben sitzen auch welche beim Zeitunglesen. Und manchmal sitzen sie einfach nur still zusammen, manchmal wird gemeinsam gebetet, manchmal auch ein Bibeltext studiert. Aber vor allem wird geknetet, gebacken und Brot verschenkt. – Auf diese Weise ist eine kleine energische Gemeinde gewachsen; es sind Arbeitsloseninitiativen entstanden und viele Menschen, die auf den Liverpooler Straßen leben, haben hier ein Zentrum, einen eigenen neuen Lebensmittelpunkt gefunden. (Hören Sie hier den wunderbaren Doppelklang des Wortes „Lebens-Mittelpunkt“ – „Lebensmittel-Punkt“?!). 

In dieser breadbaking ministry, in diesem Brotback-Amt hat die Brotbitte aus Jesu Gebet noch einmal einen besonderen Klang. Der eine Teig, den alle gemeinsam herstellen, ergibt das Brot für die eigene Ernährung und jeweils die doppelte Menge zum Verschenken an die, die nichts haben. Da liegt das materielle und das geistliche Problem in ein und demselben Knettrog. Da lassen sich religiöse und weltliche Fragen, da lässt sich Profanes und Sakrales nicht von einander trennen. Und manchmal, so erzählt Barbara Glasson, besteht der Sonntagsgottesdienst nur aus Kneten, Backen, Erzählen, Abwaschen und zusammen Essen. – Ahnen Sie, was es in dieser brotbackenden Gemeinde bedeutet, wenn man gemeinsam sagt: „Unser tägliches Brot gib uns heute“?

Durch diese Bitte wird alles Wasser und alles Salz und alles Mehl durchsichtig. Da kann man schon vor dem Essen hindurchschauen bis auf den Grund des Schloss-Burger-Zinntellers: sie sollen alle satt werden! Und darum plädiere ich für die verstärkte und vorsätzliche Wiedereinführung des Tischgebets überall da, wo es in den letzten Generationen abgestorben ist. Es macht unser Brot durchsichtig für die Welt, die darauf angewiesen ist. Und wir loben, preisen und segnen Gott über all den Lebensmitteln, weil ER nicht loslassen wird, bis das Brot für die Welt gerechter verteilt ist. Das wird uns dann anders schmecken, aber in jedem Fall besser.

Amen

(EG 302,1+2+5+8)


Marten Marquardt