Denken lernen, Sich-Entscheiden lernen

Mittwochs-Kolumne. Von Barbara Schenck

Was ist wirklich wichtig zu lernen? Die "Entscheidung" zu treffen "für das, worüber es sich nachzudenken lohnt", so David Foster Wallace*.

Das ist ein Thema für mich. Tag für Tag entscheide ich für Sie: Welche Nachricht erscheint auf reformiert-info, welche nicht; welche Meldung steht ganz oben auf der Startseite, welche an einer weniger exponierten Stelle; was ist es wert, gelesen zu werden, was weniger; was hat auf unserer Seite nichts zu suchen, was wird hervorgehoben. Die Entscheidung fällt oftmals in wenigen Sekunden dank der Raster im Kopf. Ist das ein speziell reformiertes Thema? Sind die Infos relevant, aktuell? Enthält der Text gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit? Zu entscheiden, das gehört zum Job der Redakteurin.

Wallace Entscheiden zum Nachdenken geht einen Schritt weiter: "Sie entscheiden, was Sie glauben ...". Wir könnten wählen, was wir anbeten, Gott oder Geld, meint der Schriftsteller. Dabei urteilt er selbst, es leuchte ein, sich für Gott oder ein höheres Wesen zu entscheiden, denn alles andere fresse uns bei lebendigem Leib auf. Wer Geld und Güter anbete, könne davon nie genug kriegen. Ein sympathisches Urteil, finde ich. Doch ganz einverstanden bin ich trotzdem nicht. Ob ein Mensch an Gott glaubt oder nicht, das hängt doch nicht an seiner eigenen Entscheidung. Bevor ich mich entschließe, zu meinem Gott zu beten, ist dieser mir doch längst entgegengekommen - wie der Vater dem verlorenen Sohn; bevor ich auf Christus baue, hat der heilige Geist "herzliches Vertrauen" in mir geweckt.
Will sich eine ansonsten so entscheidungsfreudige Redakteurin mit diesem Gedanken davor drücken, zu einer Entscheidung in Glaubensfragen zu stehen? Mag sein, dass die Entscheidung, den Glauben als ein Geschenk des Heiligen Geistes zu denken anstatt von ihm als Entscheidung für Gott zu sprechen, nicht alles umfasst, was vom Glauben zu sagen ist, aber zu entscheiden bleibt auch nach dem Geschenk des Glaubens noch genug: Wie ist das Wort Gottes auszulegen? Wie nach dem Evangelium zu leben? Wie nach dem Gebotenen zu handeln? Dabei schweben auch Glaubende in der Gefahr, auf das zurückzugreifen, was Wallace die "Standardeinstellungen" nennt, also in vorgegebenen Meinungen zu beurteilen, wie Leben auszusehen hat. Den "Standardeinstellungen" Kontra zu bieten heißt, so frei zu sein, andere Menschen ernst zu nehmen, sie aufmerksam und empathisch wahrzunehmen. Das ist doch selbstverständlich? Wer Zweifel an dieser Selbstvertsändlichkeit hat, kann sich selbst prüfen mit einem Bild aus der Rede von David Foster Wallace, das übrigens auch in der neuen Verfilmung zu sehen ist. Wallace beschreibt eine "fette, bräsige, aufgebrezelte Frau, die in der Supermarktschlange gerade ihr Kind angeschnauzt hat", und gibt zu denken: Vielleicht habe sie "gerade drei Nächte lang nicht geschlafen, weil sie ihrem an Knochenkrebs sterbenden Mann die Hand gehalten hat".

*Wallace, David Foster, Das hier ist Wasser. This Is Water, Köln 2012 (Rede vor dem Abschlussjahrgang des Kenyon College, USA 2005).
Den Hinweis auf den Film über die Rede verdanke ich Wolfgang Vögele.

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Barbara Schenck, 22. Mai 2013