THEOLOGIE VON A BIS Z
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O du armer Judas. Anmerkungen zu einem Verräter
von Martin Filitz, Domprediger zu Halle
0 du armer Judas, was hast du geton?
daß du deinen Herren also verraten hast
Darumb mueßt du leiden hellische Pein
Lucifers Geselle muß du ewig sein
Kyrie eleison.
Christe eleison.
Kyrie eleison,
Christe eleison.
Kyrie eleison
I. Judas – das Urbild des Verräters
Judas Isacharioth – eine rätselhafte Gestalt der biblischen Geschichte: Der Erwählte, der sich selbst auf die Seite der Verworfenen stellt. Judas ist die dunkle Gestalt schlechthin. Er ist der Freund, der den verrät, dem er alles verdankt. Für die sprichwörtlichen 30 Silberlinge liefert er ihn ans Messer. Am Ende hängt er sich auf – allen späteren zur Mahnung.
Eine solche dramatische Figur zieht Legenden an. Im Mittelalter wird Judas zu dem Vertreter der Judenheit schlechthin. Judas steht für Falschheit und Verrat, vor allem auch für Geldgier – also für all das, was man den Juden überhaupt vorwirft. Und diese dunkle Geschichte reicht bis in die Gegenwart. Aber wer ist dieser Judas, was weiß man von ihm, was kann man sicher von ihm sagen? Wie zuverlässig sind die Quellen – und was ist aus den Nachrichten geworden?
II. Die biblische Judas-Überlieferung
Juda oder Judas ist ein biblischer Name seit alter Zeit. Der 4. der Jakobssöhne trägt diesen Namen, der später zu dem Namen des südlichen Königreiches und zum Namen des ganzen Volkes werden sollte. Judas Makkabäus ist ein großer jüdischer Heerführer gegen die Übermacht der hellenistischen Truppen. Auch einer der Brüder Jesu trägt den Namen Judas, wie auch ein weiterer seiner Jünger. Juda oder griechisch „Judas“ ist ein häufiger Name. Aus diesem Namen auf ein besonderes politisches Programm schließen zu wollen – also etwa, dass die Eltern auf ein befreites, von den Römern befreites Juda hofften – greift zu kurz. Viel eher wird man schon dem Kind einen Beinamen gegeben haben, um ihn von den anderen Judas-Kindern zu unterscheiden.
Über die Herkunft des Judas ist uns nichts bekannt. Nach den Jüngerlisten der Evangelien stammt er, wie die anderen Jünger Jesu auch, aus Galiläa. Seine Heimat wird die Gegend am See Genezareth sein. Hier ist er auf die Jesus - Bewegung gestoßen. Hier hat er – wie die anderen – alles aufgegeben und ist Jesus nachgefolgt.
Bemerkenswert an ihm ist sein Beiname: Iskarioth. Mehrere Deutungen sind möglich: Isch Karioth könnte bedeuten: Der Mann aus Karioth. Ein Dorf dieses Namens ist südlich von Hebron in Juda nachgewiesen. Käme Judas aus diesem Ort, wäre er der einzige der Jünger Jesu, der nicht aus Galiläa kommt. Das ist nicht auszuschließen. Fraglich bleibt jedoch, warum dieser Umstand in den Evangelienerzählungen weiter keine Erwähnung findet. Mir will es einleuchtender erscheinen, wenn der Beiname „Ischkarioth“ gedeutet wird als „Sichelmann“, lat. „siccarius“. Die „Sicca“ ist der sichelartige Dolch der jüdischen Freischärler, die für die Freiheit Israels von Rom kämpften. Trifft diese Deutung zu, dann haben sich im inneren Kern der Jesus-Bewegung mindestens zwei Jünger aufgehalten, die zu den radikal-jüdischen Befreiungsbewegungen gehörten: Simon der Zelot und Judas Ischkarioth [Lk 6,15].
Die biblischen Angaben über Judas sind spärlich. Von Anfang an wird er in den Jüngerlisten als der gekennzeichnet „der ihn verriet“ . Er fällt nicht weiter auf wie Petrus und die Zebedäussöhne aus Kapernaum. Was ihn kennzeichnet, das ist einzig der Verrat. Die Gründe dafür liegen im Dunkeln. Wahrscheinlich ist, daß er Kontakt zu den Tempelkreisen gehabt hat, die Jesus beseitigt sehen wollten. War er von Anfang an ein Spion dieser Gruppe? – „IM Judas“? – Haben sich die einflussreichen Kreise an ihn herangemacht? Hat er selber mit seinem Verrat Jesus zur Offenbarung seiner Macht und Herrlichkeit provozieren wollen?
Ganz offensichtlich wächst mit dem Abstand zu den historischen Umständen des Todes Jesu auch die Tendenz, Judas von Beginn an schlechtzumachen. So berichtet Johannes von der Geldgier des Judas:
Sechs Tage vor dem Passafest kam Jesus nach Betanien, wo Lazarus war, den Jesus auferweckt hatte von den Toten. ort machten sie ihm ein Mahl, und Marta diente ihm; Lazarus aber war einer von denen, die mit ihm zu Tisch saßen. 3 Da nahm Maria ein Pfund Salböl von unverfälschter, kostbarer Narde und salbte die Füße Jesu und trocknete mit ihrem Haar seine Füße; das Haus aber wurde erfüllt vom Duft des Öls. 4 Da sprach einer seiner Jünger, Judas Iskariot, der ihn hernach verriet: 5 Warum ist dieses Öl nicht für dreihundert Silbergroschen verkauft worden und den Armen gegeben? 6 Das sagte er aber nicht, weil er nach den Armen fragte, sondern er war ein Dieb, denn er hatte den Geldbeutel und nahm an sich, was gegeben war. 7 Da sprach Jesus: Lass sie in Frieden! Es soll gelten für den Tag meines Begräbnisses. 8 Denn Arme habt ihr allezeit bei euch; mich aber habt ihr nicht allezeit. 9 Da erfuhr eine große Menge der Juden, dass er dort war, und sie kamen nicht allein um Jesu willen, sondern um auch Lazarus zu sehen, den er von den Toten erweckt hatte. 10 Aber die Hohenpriester beschlossen, auch Lazarus zu töten; 11 denn um seinetwillen gingen viele Juden hin und glaubten an Jesus.
Hier erscheint Judas als Kassenwart des Jüngerkreises und zudem als Dieb, was wohl bedeuten soll, daß er Geld unterschlug. Daraus, daß er bei der Salbung Jesu durch die Sünderin [Joh. 12,4] gegen die angebliche „Verschwendung“ protestiert und dabei den Betrag von 300 Silberdenaren nennt, hat man geschlossen, daß er mit dem Lohn für den Verrat 10% des ihm entgangenen Anteils erhalten hat. Dies alles gehört in der Bereich der Spekulation.
Nach dem biblischen Befund lässt sich festhalten:
1. Judas Ischarioth war einer aus dem Zwölferkreis.
2. Er muss Kontakt gehabt haben zu der Tempel-Elite
3. Gegen Geld hat er der Tempelwache verraten, wo Jesus zu finden ist.
4. Judas identifiziert Jesus mit einem Kuss.
Nach dem Bericht der drei ersten Evangelien nimmt Judas am letzten Abendmahl Jesu teil. Dort sagt Jesus ihm auf den Kopf zu, was er vorhat. Lediglich in der Überlieferung des Johannesevangeliums verlässt Judas den Jüngerkreis vor dem gemeinsamen Mahl.
Einzig Matthäus überliefert die Selbstmord-Geschichte. Deutlich ist zu spüren, wie sich Matthäus dabei auf den Text aus Sacharja 11 bezieht. Der Schuldige wird mit seiner Schuld nicht fertig. Auch die, in deren Auftrag er gehandelt hat, wollen nichts mehr von ihm wissen. Sie lieben den Verrat, nicht aber den Verräter. Das einzige, was ihm bleibt, ist der Selbstmord.
Für die biblischen Überlieferungen bei Lukas und Johannes steht fest, dass es nicht nur menschliche Bosheit ist, die sich in der Person des Judas Ischarioth offenbart. Dieser Verrat ist eine derart teuflische Geschichte, dass nur eine teuflische Besessenheit dahinter stecken kann. Eigentlich könnte dazu ein Mensch nicht fähig sein, dass er seinen Gott und Heiland ans Messer liefert.
Aber auch dieses kann man nur beschreiben, hilflos, wie menschliche Sprache in solchen Fällen ist. Niemand versucht hier, dieses furchtbare Rätsel zu lösen. Keiner der biblischen Autoren sucht nach einer psychologischen Erklärung: schwere Kindheit, Vaterkomplex, mangelnde Anerkennung. Das Rätsel Judas bleibt rätselhaft.
III. Judas – der Unmensch
Für die nachbiblische Zeit ist Judas von hohem Interesse. Man schmückt seine Biographie aus. Schon das Kind muß ein furchtbares gewesen sein. Die sogenannten „Papias-Fragmente“ wissen zu erzählen:
1. Von Apollinaris: Nicht durch Erhängen starb Judas, sondern er lebte weiter, da er vor dem Ersticken heruntergeholt worden war. Und dies bezeugt die Apostelgeschichte, daß er kopfüberstürzend in der Mitte aufplatzte, und seine Eingeweide quollen heraus. Dies erzählt deutlicher Papias, der Schüler des Johannes, der im vierten Buch der "Erklärung der Herrenworte" folgendes sagt:
2. "Als großes Beispiel der Gottlosigkeit aber wandelte Judas in dieser Welt, indem sein Körper so sehr anschwoll, dass nicht einmal dort, wo ein Wagen leicht hindurchgeht, er hindurchgehen konnte, ja nicht einmal allein die Masse seines Kopfes. Seine Augenlider nämlich, heißt es, seien so sehr angeschwollen, daß er einerseits das Licht überhaupt nicht mehr sah, und dass andererseits seine Augen (sogar) durch den Augenspiegel vom Arzt nicht gesehen werden konnten; so tief lagen sie unter der äußeren Oberfläche. Sein Schamglied erschien widerwärtiger und größer als jegliches Schamglied; er trug aber Eiterströme an sich, die aus dem ganzen Körper flossen, und Würmer, zur Qual schon allein aufgrund der (natürlichen) Bedürfnisse.
3. Als er, heißt es, nach vielen Qualen und Strafen auf seinem eigenen Grundstück zugrundegegangen war, blieb aufgrund des Gestanks das Land öde und unbewohnbar bis jetzt, und nicht einmal bis zum heutigen Tag kann jemand an diesem Ort vorübergehen, ohne daß er sich die Nase mit den Händen zuhält. Eine so starke Ausdünstung verbreitete sich von seinem Körper auch über die Erde.
Aus der Judas-Geschichte, die ohnehin schon schlimm und rätselhaft genug ist, wird hier eine Schauergeschichte. Krasser kann man diesen Auswurf der Menschheit gar nicht beschreiben. Das grenzt ans Pornographische. Natürlich hat solche Beschreibung einen Grund und ein Ziel: Je unmenschlicher Judas beschrieben wird, desto weniger gleicht er mir, und desto sicherer kann ich davon ausgehen, dass ich nicht bin, wie er, dass ich auch nicht so werden kann, wie er war. So paradox das klingen mag:
Je unähnlicher Judas mir wird, je unmenschlicher, desto weniger brauche ich ihn zu fürchten. Die biblische Überlieferung ist da anders: Als Jesus den Verrat ankündigt, sind alle betroffen und verwirrt und fragen „Herr, bin ich´s?“. Offensichtlich sind diese Menschen sich ihrer Abgründe eher bewusst als die, die Judas zu einem Unmenschen machen.
IV. Die Legende – ein Erklärungsversuch
Bereits den Eltern des Judas war dessen späteres Verhängnis geweissagt worden, als der Mutter Cyborea im Traum offenbart wurde, dass ihr Sohn den Untergang seines Volkes heraufbeschwören würde. Sie erzählte dieses ihrem Mann Rubens, der auch Simon hieß und vom Stamm Dan (nach Hieronymus vom Stamm Issachar) war und als Cyborea einen Sohn geboren hatte (es soll ein 1. April gewesen sein), legten sie das Kind in einen Korb und übergaben ihn dem Meer.
Der Korb trieb an die Insel Skarioth, wo die kinderlose Königin der Insel das ausgesetzte Kind fand und aufzog. Die Königin bekam noch ein eigenes Kind, aber schon beim Spiel zeigte sich die Bosheit des Judas, indem er den jüngeren Knaben quälte. Weil ihn Strafen nicht besserten, lüftete die Königin das Geheimnis, Judas sei nur ein Findelkind. Der Beschämte tötete daraufhin den Königssohn und floh nach Jerusalem, wo er beim römischen Statthalter Pontius Pilatus aufgenommen wurde, der in ihm einen Wesensverwandten gefunden hatte. Schnell stieg Judas zum Hofmeister des Pilatus auf.
Als es Pilatus nach einem Apfel aus des Nachbars Garten gelüstete, drang Judas diensteifrig in den fremden Garten ein. Ihn überraschte der Besitzer, den Judas nach kurzem Streit erschlug. Dieser Besitzer war aber ausgerechnet Judas eigener Vater Ruben, von den der Sohn nichts gewusst hatte (vgl. den unglücklichen Ödipus). Doch die hinterbliebene Mutter entdeckte dem Vatermörder alles und schickte ihn zu Jesus, der den reuigen Judas aufnahm.
Judas gewann die besondere Zuneigung Jesu, dem die gemeinsame Kasse anvertraut war. Es heißt allerdings, dass er heimlich jeweils den Zehnten aller Einnahmen für sich unterschlagen hätte. Darum ärgerte ihn besonders der Verlust jener 300 Silberlinge, die sich für das überreichlich von Martha verbrauchte Salböl (Matthäus 26,6-8; Johannes 12,3-6) hätten erlösen lassen. Die 30 Silberlinge, für die Judas seinen Meister an die Greifer der Pharisäer und Hohenpriester verhökerte, wären demnach des Boshaften Entschädigung für entgangenen Gewinn.
Sein Tod entsprach seinen Taten: Aufgehängt schwebte er zwischen Himmel und Erde, so dass ihn die Dämonen der Luft packen konnten. Seine Eingeweide, die ihn zu seinen Taten getrieben hätten, entquollen seinem zerborstenen Wanst und die lügende Kehle war zugeschnürt, damit der Mund, der Jesus geküsst hatte, nicht durch Lästerungen verunreinigt werde. Der Tod des Judas soll sich - wie auch seine Geburt - an einem 1. April ereignet haben.
Die Judas-Legende vereint die Neugier über den Werdegang des Judas mit Elementen der antiken Ödipussage. Dem noch ungeborenen Kind wird ein grausames Schicksal vorhergesagt [es wird seinen Vater töten und die Mutter heiraten], so dass die Eltern diesem Schicksal dadurch entgehen wollen, indem sie das Kind aussetzen. Aber niemand kann seinem Schicksal entkommen, und alles wird sich so fügen, wie es die Prophezeihung vorausgesagt hatte. Besonders bemerkenswert ist, dass Judas – hier klingt ein Motiv der biblischen Josephsgeschichte an – zum Haushofmeister des Pilatus wird.
Die Legende will erklären, will plausibel machen, was unerklärlich ist. Dazu verwendet sie vorhandene Motive und Materialien. Diese wissen aber auch nicht mehr, können nur im Sinne einer verfinsterten Prädestinationslehre sagen: Das Schicksal des Judas stand von Anfang an fest. Von Ewigkeiten her war er der Gottesverräter, und er wird es in Ewigkeiten bleiben.
Ob man sich damit zufrieden geben kann?
V. Der letzte Kreis der Hölle
Judas beschäftigt die Dichter und die Musiker, die Philosophen und die bildenden Künstler aller Zeiten. Hat man doch an ihm das Modell des absolut verworfenen Menschen. Wenn man wissen will, was Sünde ist und wohin sie führt – an Judas ist es abzulesen. Sein Schicksal ist Mahnung und Warnung an alle, es ihm nicht gleich zu tun.
In einer der bedeutendsten Dichtungen der Menschheit – in Dante Aligheris „Göttlicher Komödie“ aus dem 13. Jahrhundert ist Judas auch zu finden. Und mit ihm zusammen sitzen im letzten Höllenkreis die Verräter:
Verräter siehst du dann am Vaterlande,
Verräter an dem Freunde, der uns liebt,
Verrat am Heiland, den der Herr uns sandte,
Das ist die schwerste Schuld, die je geübt.
Wie diese Herzen einst zu Eis erstarrten,
Wie sie verhärtet Seele und Gemüt,
So siehst du sie erfroren in dem harten,
Dem gläsern kalten Eise im Cocyt.
Und die den Heiland dieser Welt verrieten,
Den Grund, auf den sich Staat und Kirche baut,
Sie fuhren in den tiefsten Schlund hienieden;
Für ewig von den anderen geschieden,
Senkt dieser Hölle herrschende Hyäne
In ihre Leiber ihre Teufelszähne
Im tiefsten Schacht, der nie das Licht geschaut.
VI. Judas in der Passionsmusik des 18. Jahrhunderts
Wo immer die Passionsgeschichte Jesu erzählt wird, ist Judas gegenwärtig. Man kann gar nicht vom Leiden und Sterben Jesu erzählen, ohne die daran beteiligten Personen mit zu erzählen: Die schlafenden Jünger, die sich bei der Verhaftung aus dem Staub machen, Petrus, der seinen Herrn nicht mehr kennen will, der Hohe Rat mit den geladenen „falschen Zeugen“, Kaiphas, der Hohe Priester, Pilatus, seine Frau, die Kriegsknechte, Simon von Kyrene, der dem zusammengebrochenen Jesus das Kreuz abnimmt, die Verbrecher, die mit Jesus gekreuzigt wurden, der Hauptmann des Hinrichtungskommandos mit seinem Christusbekenntnis, die Frauen, die bis zum Ende bleiben, Joseph von Arimathia, der sein Grab für den Gekreuzigten zur Verfügung stellt und natürlich Judas. Und wenn man die Passionsgeschichte singen möchte, dann wird man notgedrungen auch von Judas singen müssen.
Gottfried August Homilius [1714-1785]
Evangelist: Und als er noch redete, siehe, da kam Judas, einer von den Zwölfen, und mit ihm eine große Schar mit Schwertern und mit Stangen, von den Hohenpriestern und Ältesten des Volkes. Und der Verräter hatte ihnen ein Zeichen genannt und gesagt: Welchen ich küssen werde, der ist's; den ergreift. Und alsbald trat er zu Jesus und sprach:
Judas: Sei gegrüßt, Rabbi!
Evangelist: und küßte ihn. Jesus aber sprach zu ihm:
Jesus: Mein Freund, dazu bist du gekommen?
Accompagnato - Tenor
Bei dem unmenschlichen Verbrechen
Kannst du, Verwegner, noch so ruhig sprechen?
Meineidiger, kennst du den nicht,
mit dem dein Mund so tückisch spricht?
Ist er wie du ein Bösewicht?
Kennst du denn nicht das Angesicht,
in welchem zu der Menschen Glücke
nur göttliches Erbarmen glüht?
Verhöhnst du deinen Gott,
der mit dem kleinsten Blicke
die ganze Schöpfung übersieht?
Denn Gott, er darf nur winken,
so musst du in dein Nichts versinken,
der ist es, den dein Geiz verrät.
Hier ist man sich sehr sicher, was die Gegenwart und die Zukunft des Verräters Judas angeht. „So musst du in dein Nichts versinken!“ – keine Chance. Dahin kann der Geiz führen. Obwohl in der Bibel von Geiz ausdrücklich nicht die Rede ist. Lediglich im Johannesevangelium klingt der Unmut über die angebliche Verschwendung an.
Arie - Tenor
Mich verdammen meine Sünden
Und ich habe keine Ruh´
Herr, kann ich noch Gnade finden?
Sprich doch meiner Seelen zu!
Laß mich nicht wie Judas sterben
Und ein Raub der Hölle sein
Rette mich vor dem Verderben
Und erbarm dich wieder mein.
Carl Philipp Emanuel Bach [1714-1788]
Die letzten Leiden des Erlösers
Nun kam voll Freundschaft in dem Munde,
im Herzen voll Verrath, Ischarioth.
Den Menschenfreund willst du verrathen?
Den Heiligen, den dein Gewissen kennt?
Die Rache wacht: sie sieht die Tücke
In deinen finstern tiefen Blicken,
sie sieht die Hölle ganz in dir.
Es bebet die Natur bey deinen Missethaten;
Die schrecklichste wird klein dafür.
Es küsset ihn und zeiget
Den Freund der mörderischen Schaar,
die mit ihm war.
Der Fromme neiget sanft den Blick auf ihn,
und spricht: „Freund, warum bist du kommen?“
Aria
Wie ruhig bleibt dein Angesicht
Bey deines Jüngers Frevelthaten!
Er kommt, dein Freund, dich zu verrathen;
Der Tod mit ihm: du wankest nicht,
nein, du wankest nicht.
Sey wie er gelassen,
Seele, wanke nicht
Wenn dich Stürme fassen,
sey voll Zuversicht,
Seele sey voll Zuversicht.
Bei Carl Philipp Emanuel Bach ist alles auf das Gefühl, das Sentiment abgestellt. Text und Musik sollen den Hörer rühren. Das geschieht mit der Metapher vom Freundesverrat. Und weil der Verratene auch noch der eine „Menschenfreund“ ist, ist das Verbrechen umso schlimmer. Aber der Hörer erfährt auch, wie solch frevelhaftem Tun begegnet werden kann: Ungerührt „du wankest nicht!“. So soll auch der fromme Mensch sein: Gelassen und voll Zuversicht – wie es auch die Stoa lehrte.
Georg Philipp Telemann – [1681– 1767]
Brockes Passion
Judas:
Oh, was hab´ ich, verfluchter Mensch, getan?
Rührt mich kein Strahl,
will mich kein Donner fällen?
Brich, Abgrund, brich,
eröffne mir die Bahn zur Höllen!
Doch ach, die Höll´ erstaunt
Ob meiner Taten,
die Teufel selber schämen sich!
Ich Hund hab meinen Gott verraten!
Auch hier die wütende Emphase – diesmal von Judas selbst vorgetragen. Alles Menschliche hat er aufgegeben. Gottesverrat hat zur Konsequenz, daß selbst die Erde diesen entarteten Menschen nicht mehr tragen kann. Auch hier deutlich die Tendenz, die eigenen Judas-Anteile zu verschleiern.
Reinhard Keiser [1674-1739]
Markuspassion
Arie – Tenor
Wenn nun der Leib wird sterben müssen,
so soll die Seele Jesum küssen
aus seinen göttlich seelgen Mund.
Doch nicht wie dieser Judas tate,
mit Gall´ vermischtem schnöden Rate,
nein, nein, aus innerm Herzensgrund.
Reinhard Keiser versucht, den Judaskuss zum Anlaß zu nehmen, um das innige Verhältnis zu beschreiben, das die Seele zu Christus findet: Im Moment des Todes soll sie ihn küssen, um so aus dem Leben in das ewige Leben zu gehen. Das ist die Theologie der mystischen Erfahrung zusammen mit einer Schriftauslegung, die neben dem reinen Wortsinn eines Textes vor allem den allegorischen Sinn betont.
Unbekannter Komponist um 1750
Markuspassion
Arie – Baß
Schrecklich harter Ausdruck: Wehe!
Judas, hörst du nicht? So gehe
In des Abgrunds schwarzen Rauch!
Können Geiz und Freveltaten
Meinen Heiland noch verraten
So verrat ich ihn ja auch.
Der Komponist legt allen Wert darauf, Judas von dem Verrat zurückzuhalten, weil er sich in Judas auch selber erkennt. Die Musik drängt, aber Judas lässt sich nicht aufhalten. Er geht seinen Weg bis zum Ende. Werde auch ich diesen Weg bis zum Ende gehen müssen? Diese unbekannte Markuspassion lässt die Frage offen.
Johann Sebastian Bach [1685-1750]
Duett – Sopran Alt Chor:
So ist mein Jesus nun gefangen Lasst ihn! Haltet! Bindet nicht!
Mond und Licht
Sind vor Schmerzen untergangen,
weil mein Jesus ist gefangen Lasst ihn! Haltet! Bindet nicht!
Sie führen ihn, er ist gebunden
Sind Blitze, sind Donner
In Wolken verschwunden?
Eröffne den feurigen Abgrund o Hölle
Verschlinge, verderbe,
zerreiße, zerschelle
mit plötzlicher Wut
den falschen Verräter, das
mördrische Blut
Arie
Gebt mir meinen Jesum wieder
Seht das Geld, den Mörderlohn
Wirft euch der verlorne Sohn
Zu den Füßen nieder.
In Bachs Matthäuspassion finden wir beide Auslegungstendenzen wieder: Zum einen die Übergabe des Verräters an Hölle, Tod und Teufel. Der Abgrund soll ihn verschlingen. Obwohl auch schon hier die Tochter Zion, also gleichsam die Mutter des Judas singt:
Blute nur, du liebes Herz
Ach ein Kind, das du erzogen
Das an deiner Brust gesogen
Droht den Pfleger zu ermorden
Denn es ist zur Schlange worden.
Später dann nach dem Verrat und der versuchten Rückgabe des Verräterlohns besingt der Baß die Szene vor den Hohepriestern und beschwört sie, den gefangenen Jesus herauszugeben. In diesem Zusammenhang ist Judas der Verräter der „verlorene Sohn“, der – nach dem Gleichnis im Lukasevangelium – wieder nach Hause kommen kann. Eine bemerkenswerte Wendung in Bachs Matthäuspassion.
VII. Judas – die Ausgeburt der Hölle?
Das bleibt rätselhaft. Da kann nur der Teufel in ihm gesteckt haben – sagen Lukas und Johannes. Das einzige, was ihm bleibt, scheint die Höllenfahrt – in des Abgrunds schwarzen Rauch. Einen solchen Menschen erträgt die Erde nicht und noch weniger der Himmel.
Oder hat Judas noch eine Chance? Das sind Spekulationen. Man kann nur mühsam zu verstehen suchen. Denn immerhin: Judas ist schließlich kein Einzelfall. Der Textdichter der anonymen Markuspassion hat das auf den Punkt gebracht: „Können Geiz und Frevelthaten meinen Heiland noch verrathen, so verrath ich ihn ja auch!“ – m.a.W. ich bin aus demselben Holz geschnitzt. Was Judas getan hat, ist auch meine Möglichkeit. Gott sei Dank, wenn ich vor solchen Taten bewahrt bleibe – aber im Prinzip bis ich ebenso dazu fähig wie Judas. Judas ist mein Spiegelbild.
Und wenn ich das Wort von der Vergebung Gottes gehört habe, die allen Menschen gilt. Wenn das Wort Jesu mich freigesprochen hat von meiner dunklen Vergangenheit, kann ich dann Judas von dieser Wahrheit Gottes ausnehmen?
Der Verräter Judas darf hier nicht schlechter gestellt werden als der Verleugner Petrus, der Verfolger Paulus, die versagenden Jün¬ger alle. Weder seines Verrates noch seines Selbstmordes wegen darf er außerhalb des Wirkbereiches der vergebenden, Leben gebenden Liebe gestellt werden. Wird hier eine Grenze gezogen, dann wird zweifelhaft, wo wir anderen bleiben, die wir oft allzu selbstver¬ständlich uns innerhalb dieser Grenze wähnen, wir kleinen Versa¬ger, oft auch Verräter. Nur unbegrenzte Vergebung ist wirkliche, ist göttliche Vergebung. Das Neue Testament ist das Buch der Sorge um die Mörder Jesu, die den in Jesus zu ihnen gekommenen Sinn Israels und damit sich selbst zerstören. Judas ist ihr extremer Repräsentant, für den selbst die Evangelisten kein Wort mehr einzulegen wagen. Weil aber Grenzziehung hier das Ganze gefährden würde, darum gilt, wie schon gesagt: das Neue Testament ist das Buch der Sorge um Judas Ischarioth, ist gute Botschaft für Judas Ischarioth.
0 du armer Judas, was hast du geton?
daß du deinen Herren also verraten hast
Darumb mueßt du leiden hellische Pein
Lucifers Geselle muß du ewig sein
Kyrie eleison.
Christe eleison.
Kyrie eleison,
Christe eleison.
Kyrie eleison