"Auge um Auge, Zahn um Zahn", diese biblische Formel wird auch im 21. Jahrhundert gerne zitiert, um zu zeigen, mit welcher Härte alttestamentliches Gesetz Vergeltung verlange, anders als Jesus, der sage: "Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halte ihm auch die andere hin“ (Matthäus 5,38f.). In einem Beitrag auf chrismon.de widerlegt Eduard Kopp diese antijudaistische Auslegung der sogenannten "Talionsformel" als Ausdruck für das Bedürfnis nach Rache. Kein jüdisches Gericht fordere oder habe jemals gefordert, eine begangene Straftat körperlich zu vergelten. Vielmehr mache die Bibel an konkreten Fällen deutlich, dass mit "Auge um Auge" eine Entschädigungsleistung gemeint sei, wie die zu zahlende Geldbuße, wenn Männer eine schwangere Frau stoßen, sodass sie vorzeitig gebärt (2. Mose 21,22-25).
An diese Deutung anknüpfend sei an dieser Stelle an Jürgen Ebachs Auslegung des "Auge um Auge" erinnert: Das hebräische tachat (= um oder für) bezeichne ein "Äquivalent". Eine "wirkliche Äquivalenz zwischen Auge und Auge" lasse sich jedoch nicht in Praxis verwandeln. Das zeigen eindrücklich "rabbinische Debatten über die Frage, was denn sei, wenn das Auge des Geschädigten größer gewesen sei als das des Schädigers oder wenn es sich bei dem einen um einen Einäugigen", so Ebach. Als angemessene Entschädigung habe in der Praxis dementsprechend immer eine Entschädigungszahlung gegolten. Nun stellt sich jedoch die Frage, warum die "Talionsformel" in einige Texte des Alten Testaments eingefügt wurde, und was sie leisten soll, "wenn sie gerade nicht zur Rechtspraxis wird?"
Ebach antwortet: "Nun, die Praxis der in Geld zu entrichtenden Entschädigung enthält ein doppeltes Problem. Ist es gerecht, wenn zur Aufbringung einer auferlegten Entschädigungszahlung ein Armer seine Existenz verliert, womöglich sich oder seine Kinder in Schuldsklaverei verkaufen muss, während ein Reicher sozusagen mal eben sein Scheckbuch zückt? Und ist es überhaupt gerecht, Leib und Leben von Menschen in Geld umzurechnen? Es sind diese Fragen, die die sozialkritischen Propheten Israels gestellt haben. Die „Auge-um-Auge-Bestimmungen“ reagieren auf die prophetische Kritik. Sie halten fest, dass einzig ein Auge einem Auge äquivalent ist, einzig ein Leben den Wert eines Lebens abbilden kann. Das bedeutet, wie wir sahen, gerade nicht, dass eine realisierte Vergeltung zur Rechtspraxis würde. Weiterhin bleibt es bei den Ersatzleistungen in Geldform. Aber die Bestimmungen halten fest, dass damit zwar die Folgen des Schadens, soweit es denn in der Praxis möglich ist, gemildert sind, dass aber der Schaden nicht wieder gut gemacht ist. Die in der Adenauerzeit begonnenen Entschädigungszahlungen an jüdische Opfer des Naziterrors hatten die fatale Bezeichnung „Wiedergutmachung“. Kann, mit wie viel Geld auch immer, wieder gut gemacht werden, was Jüdinnen und Juden und den anderen Opfern von Deutschen angetan wurde? Die Frage beantwortet sich selbst. Aber wäre es denn etwa richtig, darauf zu verweisen, dass Geld ohnehin nichts wieder gut machen könne, und deshalb auf Entschädigungen zu verzichten? Wer dafür plädiert, Entschädigungszahlungen zu leisten und dabei sehr wohl zu wissen, dass solche Entschädigungen nichts wieder gut machen, verhält sich eben so, wie es die „Auge-um-Auge-Passagen“ der Bibel fordern."
Literatur / Quellen
Eduard Kopp, „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ – eine gute Regel? (August 2013), online: http://chrismon.evangelisch.de/artikel/2013/auge-um-auge-zahn-um-zahn-eine-gute-regel-19322
Jürgen Ebach, Nicht den Frieden, sondern das Schwert!? (2010), online: http://www.bibel-in-gerechter-sprache.de/downloads/muenchen/Ebach-OEKT2010_Gewalt.pdf
Dieser Beitrag ist Teil der Serie "Am Rockzipfel des Judentums - Freitags ein Denkanstoß aus dem Hause Israel"
in Anlehnung an Sacharja 8,23, wo der HERR der Heerscharen spricht:
"In jenen Tagen, da ergreifen, ja ergreifen zehn Menschen aus allen Sprachen der Nationen den Zipfel einer einzigen jüdischen Person und sagen: 'Wir wollen mit euch gehen; denn wir haben gehört: Mit euch ist Gott.'" (BigS)