Evangelisches Profil: Wo evangelisch drin ist, muss es nicht drauf stehen

von Gerard Minnaard

''Der Papst wird nie trunken in einem Auto angehalten werden. Denn er darf überhaupt nicht fahren. Er ist eine Institution und kein Mensch. Vielleicht muss die evangelische Kirche sich entscheiden ...'' - Ein Beitrag aus der ''Jungen Kirche'' 2/2010 zum Thema ''Evangelisches Profil'' auf reformiert-info.

Als ich vor 30 Jahren Mitglied der Evangelischen Kirchen wurde, war es mir wichtig, dass die Kirche sich durch ihre inhaltliche Arbeit einen Namen machte. Ich hatte etwas gegen das Etikett „christlich“, das in der Geschichte der Kirchen so viel Unheil angerichtet hat und so mit Inhalten verbunden wird, die meines Erachtens mit der biblischen Botschaft nicht übereinstimmen. Als Sozialarbeiter lernte ich, dass es keine christliche, sondern nur gute oder schlechte Sozialarbeit gibt. Gute Sozialarbeit orientiert sich an der Not der Menschen, versucht die Menschen zu stärken und auf die Gesellschaft so einzuwirken, dass es weniger Not gibt. Jede gute Sozialarbeit hatte für uns mit der frohen Botschaft der Bibel zu tun. Wer aber kann von sich behaupten, gut zu sein? Wir können nur hoffen, dass wir die Arbeit gut machen, und genauso können wir nur hoffen, „christlich“ zu handeln. Eine Entscheidung darüber zu fällen, steht uns nicht zu, und deshalb steht es uns nicht zu, das Etikett „christlich“ auf unsere Aktivitäten zu kleben.

Die Zeiten haben sich geändert. Die Kirchen werden kleiner und das Geld wird knapper. Interessanterweise gibt es neben einer zunehmenden Verweltlichung der Gesellschaft eine Zunahme verschiedener esoterischer Glaubensrichtungen – und eine wachsende Präsenz des Islam. Mit anderen Worten: der religiöse Bereich in der Gesellschaft wird kleiner und er wird stärker, und in beiden Fällen verlieren die großen Volkskirchen an Macht.

Ich verstehe, dass die Kirchen, die durch diese Entwicklung in die Defensive gedrängt werden, in die Offensive gehen: „Schau mal: Wir sind (noch) da!“ Ein kleines Beispiel dieser Offensive ist die veränderte Kleidung der Pfarrer/innen in der Öffentlichkeit. Plötzlich tragen sie in der Öffentlichkeit einen weißen Stehkragen und positionieren sich durch diese auffällige Kleidung als Repräsentant/ innen der Kirche. Ich mag diese offensive Kleidung nicht. Das Gewicht, das die evangelischen Kirchen auf Präsenz und Erkennbarkeit in der Öffentlichkeit legen, führt in einigen Punkten zu einer Angleichung an die römisch-katholische Kirche. Die modernen Medien verlangen nach einem Gesicht und einer Stimme. Vielleicht ist dieser Druck – mit einem Gesicht auftreten zu wollen – ein Grund, dass Margot Käßmann gestolpert ist. Der Papst wird nie trunken in einem Auto angehalten werden. Denn er darf überhaupt nicht fahren. Er ist eine Institution und kein Mensch. Vielleicht muss die evangelische Kirche sich entscheiden, was sie haben will: eine unpersönliche Institution oder eine Vertretung durch eine Vielfalt von Menschen, die sich weniger medienwirksam, aber auch unter weniger Druck bewegen können. Ich verstehe, dass die Kirche in die Offensive geht. Ich verstehe, dass sie sich dagegen wehrt, Kirchengebäude verkaufen und Menschen entlassen zu müssen. Ich verstehe, dass sie darüber nachdenkt, wie sie neue Mitglieder findet. „Kirche der Freiheit“ heißt die große Offensive der Evangelischen Kirche in Deutschland. „Um sich über Wesen und Auftrag der Kirche in der Gegenwart zu verständigen“ – so fasst das Papier zusammen – „kann es nützlich sein, von folgenden vier Prinzipien auszugehen: Nötig ist [so der erste Punkt] geistliche Profilierung statt undeutlicher Aktivität. Wo evangelisch draufsteht, muss Evangelium erfahrbar sein.“ Ich kann das Anliegen nachvollziehen. Trotzdem merke ich, dass ich von einer anderen Seite her komme. Für mich ist die erste Frage, was denn überhaupt evangelisch ist. Ist diese Frage konkret beantwortet, ist es nach meiner Erfahrung nicht mehr wichtig – oder sogar eher hinderlich –, ein Etikett „evangelisch“ oder „christlich“ draufzukleben. Es mag sein, dass ich so denke, weil ich nicht direkt in der Institution Kirche arbeite. Vielleicht kann man aber manchmal vom Rande her schärfer sehen.

Gerard Minnaard

Quelle: Junge Kirche Heft 2 / April 2010
Focus: Evangelisches Profil
auszugsweise online auf http://www.jungekirche.de/

Der Beitrag von Gerard Minnaard "Wo evangelisch drin ist, muss nicht evangelisch drauf stehen" mit freundlicher Genehmigung des Autors und Herausgebers auf www.reformiert-info.de.

Aus dem Inhaltsverzeichnis der Jungen Kirche 2/2010

Editorial

Der Kern des evangelischen Glaubens
Klara Butting

Profilierung: Die Entstehung des Problems
Matthias Kaiser

Wo evangelisch drin ist,muss es nicht drauf stehen
Gerard Minnaard

Der Fall Käßmann
Dietrich Neuhaus

Wir bauen immer noch
Armin Mack und Jutta Weiß

Evangelisches Profil oder protestantisches Prinzip?
Hans-Martin Gutmann

Evangelische Schulen
Pro: Ingo Reuter, contra: Ina Korter


Die Bibel der Juden in der evangelischen Kirche
Bertold Klappert

Der Gottesdienst als Qualitätsprodukt
Julia Rabel


Minarette und Datenklau
Peter Winzeler

Glaube und Kunst
Evangelische Offenheit

Profile entwerfen? Probleme anpacken!
Martin Stöhr

Auf dem Weg zu gerechtem Frieden – Ökumene wagen?
Bärbel Wartenberg-Potter

Aber man schafft es doch nicht immer
Magdalene L. Frettlöh


Eine Spiritualität des Zuhörens, der Großzügigkeit
und der gerechten Gastfreundschaft
Nyambura Njoroge

Eine Antwort auf den Klimawandel
Christian Reiser

Religiös globalisierte Dörfer
Oliver Dürr

Gran Torino
Hans-Martin Gutmann


Judas – einer von uns
Magdalene L. Frettlöh

Ohne Christus wären wir Atheisten
Wolfgang Raupach


©Gerard Minnaard, Herausgeber der Jungen Kirche