Ich wäre auch gefahren. Vorher hätte ich den ganzen Abend dagesessen, mit einem sich munter drehenden Kaleidoskop von Gefühlen in Kopf und Herz. Blanke, spitze Kristalle von Ärger, auf ihn: Ich habe es ihm ja gleich gesagt. Und auch auf mich selbst: Ach, ich hätte es ihm doch einfach verbieten sollen. Die dunklen Scheibchen Sorge: Hoffentlich passiert ihm nichts. Helle Funken von Vertrauen: Ihm wird schon nichts passieren. Und dazwischen rote Herzen: Meine Liebe zu ihm. Immer schieben sie sich in den Vordergrund. Seufzend wäre ich dann irgendwann aufgestanden, widerwillig hätte ich mir etwas übergezogen und wäre losgefahren durch die Nacht. Und dann wäre es sogar schön gewesen, so durch die Nacht zu fahren und die Musik im Radio hätte mich erinnert an die Zeit, als ich selber jung war und so gerne etwas erleben wollte. Und immer gefahren werden musste oder fragen, ob mich einer mitnimmt, was so furchtbar uncool ist und peinlich. Und dann hätte ich ihn gesehen in der sich verlaufenden Menge, ohne seine Jacke, weil ich ja nicht einmal gewagt hatte, ihm beim Abschied zu sagen: Nimm dir bitte eine Jacke mit. Und ich hätte mich gewundert, wie groß ein Herz sein kann. Wie groß mein Herz ist.
Die Geschichte einer Mutter und eines Sohnes erzählt Kristiane Bilkau in ihrem Buch „Die Glücklichen“. Sie erzählt so davon, dass jede und jeder mit einem Herz im Leib Sehnsucht nach genau so einer Mutter bekommt. Und sich ein eigenes Gefühlskaleidoskop in Gang setzt: Dankbarkeit, Wut, Liebe, Trauer. So geliebt zu sein und abgeholt noch aus den Irrtümern über sich selbst. Was für eine Liebe muss das sein. Gottes Liebe ist so. Gott ist barmherzig, ist die Mutter, die liebt. Der Prophet Hosea erzählt davon, wie Gott einmal zu Recht so böse auf sein Volk ist und ihm doch einfach nicht böse sein kann. „Mein Herz wendet sich gegen mich“ sagt Gott, „darum komme ich nicht im Zorn.“ Sondern voller Liebe. Das ist Barmherzigkeit.