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Erinnerung an den Herrn J.
Predigt zu Apg 1,1-11 zu Himmelfahrt
Und über uns im schönen Sommerhimmel / war eine Wolke, die ich lange sah. / Sie war sehr weiß und ungeheuer oben / und als ich aufsah, war sie nimmer da.
„Erinnerung an die Marie A.“ heißt das Gedicht von Bertolt Brecht, in dem diese Zeile vorkommt. Ein Liebesgedicht für den „blauen Mond September“, stimmungsvoll, einfach und ein bisschen melancholisch. Eine Erinnerung an einem Nachmittag unter Bäumen, auf der Wiese, die Liebste im Arm oder im Arm des Liebsten. Ein Grashalm im Mund und zwischen halbgeöffneten Lidern in den Himmel blinzeln. Eine Wolke sehen, aber nur eine, eine weiße, die keinen Regen bringt und kein Gewitter. Solche Momente haben die Chance, zu Erinnerungen zu werden.
Mit ihnen wird möglich, was sonst unmöglich ist: Die Grenzen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschwimmen zu lassen. Ein Moment ist ein Moment ist ein Moment, Vergangenheit wird Gegenwart, Gegenwart wird Vergangenheit. Auch die Zukunft droht und drängt nicht, wenn es doch solche lichten, leichten Momente gibt. Einmal einverstanden sein mit der Flüchtigkeit von allem, mit der Schönheit der Wolke, die sich im Schweben schon auflöst an ihren Rändern, hinein ins Blaue und die man ohne Bedauern oder Kummer davonschweben sieht.
Sehr weiß und ungeheuer oben ist auch die Erinnerung an den Herrn J. Vorher war alles bloß Abschied, letzte Absprachen. Und es gab genaue Nachfragen. So drängend, wie es bei Liebenden nun einmal ist. Und bei allen Menschen, die sich gerne wiedersehen möchten, weil sie miteinander verbunden sind und aneinander gebunden. So war es auch bei Herrn J. und seinen Freunden. Wann ist es so weit, Herr? Wirst du dann die Herrschaft Gottes in Israel wieder aufrichten? Wann wird das sein? Mit wolkigen Auskünften mögen sie sich nicht gerne zufrieden geben.
Niemand, der liebt und vermisst, möchte das. Wer liebt und vermisst, will „irgendwann“ überhaupt nicht hören, sondern lieber „gleich“, „ganz bald“, will am besten Zeit und Frist. Weil wir besser warten können, wenn wir die Zeiten und Fristen kennen. Gerade haben wir so sehr erfahren, wie mühsam das Warten ist, wenn man das Ende nicht kennt. Das Ende der Pandemie zum Beispiel. Oder das Ende eines Krieges.
Ich denke daran, hier oben in dieser Ruine, wie die Menschen in dieser Stadt gewartet haben bis zu dem einen Tag Anfang Mai 1945, ohne zu wissen, wann er kommen würde. Und wann sie nicht mehr ängstlich nach oben blicken mussten und da einfach nur die Wolken sein würden und keine Flugzeuge mit Bomben darin. Ich denke an die Menschen in Lwiw und Charkiw, deren Augen heute den sommerlichen hohen Himmel im Osten ängstlich absuchen oder die ihn schon lange nicht mehr gesehen haben in den Schutzräumen oder den Katakomben der U-Bahn.
Zeit und Frist nicht zu kennen, macht das Warten unerträglich. So stehen wir in unserer Welt herum. So standen sie auf diesem Berg mit dem Herrn J. und in der Luft lag Abschied. Verhangen hätte der Himmel eigentlich sein müssen an so einem Tag, bedrückt und geduckt wie sie selbst. Aber stattdessen segelte eine Wolke heran, sehr weiß und ungeheuer oben, und nahm den Herrn J. einfach mit.
Wie gebannt standen sie da und blinzelten in den Himmel und es war, als hätte ihnen jemand den Herrn J. aus den Armen gerissen. Dass sie ihn hätten festhalten wollen, merkten sie, dass er hätte bei ihnen bleiben sollte, einfach da bleiben. Ganz benommen davon, dass es nun endgültig zu Ende sein sollte, nachdem sie ihn so unerwartet wiederbekommen hatten aus seinem Grab, in dem kein Himmel mehr war. Weil uns doch die Erde deckt in allen Gräbern und es eigentlich nicht vorgesehen ist, dass wir noch einmal den Himmel sehen und die Bäume und die Wolken. Das war dem Herrn J. aber nicht bekannt gewesen oder nicht bewusst, als er wieder aufstand. So, als könnte man vom Tod aufstehen wie von einer Wiese unter Bäumen. Und fortgehen, weil man lange genug dort gelegen hat und es einem zu kühl wird und zu feucht. Und man noch etwas anderes vorhat, als tot zu sein.
Immer hatte der Herr J. etwas anderes vor, als das, was man sich von ihm wünschte oder sich von ihm gedacht hatte. So wie jetzt auch. Er wollte nicht bei ihnen bleiben und werden wie jeder beliebige alternde Sektenführer. Er wollte sich nicht langweilen mit den immer gleichen Gesichtern und den alten Geschichten und der Gewohnheit, die entsteht, wenn man sich zu gut kennt und die manchmal die Liebe ersetzt. Er ging weg, der Herr J., weil nicht sein eigenes Denkmal werden wollte und von der Vergangenheit leben wie von einem Vorrat, der sich doch irgendwann aufbraucht. So wäre es bestimmt gekommen.
Wenn nicht die Wolke da gewesen wär / die weiß ich noch und werd ich immer wissen / sie war sehr weiß und kam von oben her. / Die Pflaumenbäume blühn vielleicht noch immer / Und jene Frau hat jetzt vielleicht das siebte Kind / doch jene Wolke blühte nur Minuten / und als ich aufsah, schwand sie schon im Wind.
Wir wissen ihn noch, den Herrn J. Und werden ihn immer wissen. Und zwar deswegen, weil er nicht mehr bei uns ist, paradoxerweise. Weil er mit dieser Wolke gegangen ist, sehr weiß und ungeheuer oben. Weil er nicht mehr unter uns ist, sondern oben, ungeheuer oben sogar, zur Rechten Gottes und unter uns zugleich. Wir wissen ihn und werden ihn immer wissen. Wie die Erinnerung an den Menschen in deinem Arm, an einen Kuss auf einer Wiese im Sommer und an den Baum, unter den ihr euch gerettet habt, als es plötzlich doch noch anfing zu regnen.
Niemand darf sagen: „Das ist doch bloß eine Erinnerung“. Denn wovon würden wir leben, hätten wir keine Erinnerungen? Die Erinnerung an den Augenblick der Liebe. An den Tag, als der Frieden endlich kam. Auch an den Tag, als wir Erde in ein Grab warfen und nichts in uns größer war als die Hoffnung, dass dies bitte, bitte nicht das Ende sein möge.
Wir brauchen diese Erinnerungen. Weil wir gerne leicht sein wollen, blühend und schön wie die Wolken am sommerlichen Himmel und die Erinnerung an den Herrn J. uns dabei hilft, so zu werden, ohne Zeit und Frist, im Moment, in der Gegenwart. Damit wir den Himmel sehen über all den Ruinen unser Zeit und unseres Lebens. Denn diese Wolke blühte nur Minuten. Aber die Erinnerung an den Herrn J., die bleibt für immer.
Amen
Kathrin Oxen