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Lautlose Schreie aus den Tiefen
Psalm 130. Eine Predigt von Marten Marquardt
Psalm 130
(Übertragung: Marten Marquardt)
1. Ein Maalot-Lied
Aus Tiefen rufe ich Dich, DU.
2. ADONAI, höre auf meine Stimme; Deine Ohren seien offen für die Stimme meines Flehens!
3. Wenn Du, ja DU, Sünden beobachtest, ADONAI: wer wird dann bestehen?
4. Denn bei Dir gibt es Vergebung, damit man Dich fürchtet.
5. Ich hoffe sehr auf DICH. Mein ganzes Leben wartet auf Dein Wort.
6. Mein ganzes Leben - auf ADONAI, mehr als Wächter auf den Morgen, Wächter auf den Morgen.
7. Warte, Israel auf IHN, denn bei IHM ist Solidarität und viel Vergebung, bei Ihm!
8. Und Er wird Israel erlösen von allen seinen Sünden.
Liebe Gemeinde,
da schreit einer. Von ganz unten. Da schreien viele. Von ganz unten.
Es gibt auch lautlose Schreie. Edvard Munch: „Der Schrei“. Ein aufgerissen verzerrter Mund ohne Töne. Man kann die Schreie auch sehen. Wenn man hinschaut. Wenn man will.
Auch diesen Schrei aus den Tiefen nennt der Psalm ein Lied, ein Maalot-Lied, ein A u f s t i e g s – L i e d. Ein Lied in Gottes Ohr.
Lieder müssen nicht immer erfreuen. Es gibt auch Trauergesänge und Klagelieder. Hier schreit Einer, hier schreien in der einen Stimme Viele ihre Klage zum Himmel. Ihr Maalot-Lied: Mima’amakim, aus den Tiefen.
Aus den Tiefen, Plural. Nicht nur e i n e Tiefe, wie Luther übersetzt, sondern viele Tiefen. Rabbinische Ausleger finden das besonders wichtig. Tief ist die Not des Exils, des Fremdbleibens in dem Land, in dem schon meine Eltern und Großeltern und Urgroßeltern gelebt haben. Fremd bleiben, ausgeschlossen bleiben, nicht willkommen zu sein im eigenen, im einzig verbleibenden Land, das ist ein Abgrund menschlichen Leidens. Der Ruf dieses Liedes kommt aus der Ferne des Exils, aus der Fremde. Es ist ein Schrei aus der Entfremdung, ein Schrei nach Heimat.
Tief verunsichernd ist aber auch die Erfahrung der Gottesfinsternis. Wo bist DU, Gott? Warum hilfst DU nicht? Warum erleben wir nicht, dass DU für DEIN Volk in die Bresche springst? Diese Gottesferne! Dieser Schatten, der nun in unseren Augen Gott umgibt! Diese Verzweiflung über den, der einzig helfen kann, und der versprochen hat, zu helfen! Dieser heraufdrängende Zweifel an Gott, an allem, was galt bisher! Dieser innere Kampf mit der eigenen Verzweiflung! Dieser seelische Tiefdruck! Der Beter ruft aus der Tiefe der eigenen Glaubensdepression heraus.
Und abgründig der Gedanke, es könnte auch Gott selber verloren sein, wenn Israel verloren ist. Das ist jüdischem Glauben gar nicht so fremd, dass Gott selber auf dem Spiel steht. Israel kennt ja keinen über alles Erhabenen, den das große Weltgetriebe grundsätzlich nicht ankratzen könnte. Israels Gott ist nicht der ewige und unbewegte und von unserer Welt abgehobene absolute Herrscher. Israels Gott ist verletzbar. - Wenn Israel im Exil ist, ist auch Gott in der Fremde, umschattet, schwerer zu erkennen. Darum heißt es im dritten Vers: „Wenn Du, j a D U, Sünden beobachtest...“. Das DU Gottes ist manchen Juden im Exil, in Köln und anderswo, unsicherer geworden. Darum benutzt der Psalm hier einen verkürzten, einen verunsicherten Gottesnamen, den ich mit dem Nachklapp „ja DU“ andeuten will. Im Exil, inmitten der Anfeindung durch die Nachbarn, wird auch Gott selbst unsicher. Darum das stotternd nachgelegte, „Du, j a D U“. Der Beter schreit auch aus dieser Tiefe der Gottesgefährdung heraus.
Der italienische Gelehrte Ibn Yachya (Gedaljah ben Joseph 1515-1587) überlegt an dieser Stelle, dass ja auch der Beter selbst bei alle dem verwirrt sein und verworren reden könnte. Kann ein verworrenes Gebet bei Gott erhört werden? Dürfen wir verworrenes, unlogisches Gestammele vor Gott bringen? Und Ibn Yachya antwortet: „Wenn die Bedrängnis meiner Not so groß ist, dass ich nicht mehr vernünftig beten kann, dann bete ich trotz allem zu DIR, dass DU mein erbärmliches Geschrei so annimmst, als wäre es ein wohl formuliertes Gebet.“ – Beten ist also bei Gott keine Frage der gestanzten Rede und der gestochenen Formulierung. Du kannst zu Gott auch beten mit Gestotter und Gestammel, auch wenn du nicht mehr ganz bei Troste bist vor lauter Kummer.
Und dann schließlich auch diese nagende Erkenntnis eigener Schuld. Rabbinische Ausleger klagen nicht Gott an, sondern sich selbst: Israel hat einen eigenen Abgrund an Sünde und Schuld, der das Leben so bitter macht und der auch zum Exil, zur Entfremdung von Gott und den Menschen führt. Und diese selbst ver¬schuldete Verwicklung in die Grausamkeiten der Weltgeschichte ist der letzte Grund für die Schmerzen des Exils. - So versuchen sie, sich selbst zu disziplinieren. Und dann die Erkenntnis, dass Schuld und Sünde tatsächlich nur durch Vergebung, nur von Gott her, zu beheben sind. Ohne Vergebung schaffen wir die Sünde nie aus der Welt, sondern verstricken uns tiefer und mehr hinein, je mehr wir zu lösen versuchen.
Aber hier unterbreche ich den rabbinischen Auslegungsgang für uns. Wenn jüdische Stimmen so denken und vor Gott von ihrer eigenen Schuld sprechen, dann, spätestens dann, müssen wir uns ausklinken und, statt Israel lauernd zu belauschen, unsere eigene Lage bedenken. Da tun sich nun andere Abgründe auf und da schreien wir aus anderen Tiefen heraus zu Gott. Dann wird nämlich dieser Maalot-Psalm, dieser Aufstiegsgesang, zuerst einmal ein Abstiegsgesang f ü r u n s. - W i r müssen erst einmal hinabsteigen in die Tiefen und Untiefen unserer eingewurzelten und krankmachenden Judenfeindschaft, die das Christentum seit 2000 Jahren mehr oder weniger gepflegt hat. Es führt kein Weg vorbei an der Einsicht, dass unser westliches Christentum einen früh erworbenen Herzfehler hat, der uns von Israel abgewendet, unseren jüdischen Nachbarn entfremdet hat und der Juden weithin zu Fremdkörpern und Feinden im christlichen Abendland gemacht hat. Wir haben dazu ja ein paar Beispiele an Stelle des üblichen Sündenbekenntnisses zu Beginn unseres Gottesdienstes gehört. Weitere können Sie in dem kleinen Materialheft, das Sie am Ausgang bekommen werden, nachlesen. Unsere Kirchen sind seit zweitausend Jahren zu gefährlichen und teils auch mörderischen Nachbarn für Israel geworden. Das Kreuz Christi, das uns allen als ein Symbol der Erlösung, der Menschenfreundlichkeit Gottes so vertraut ist, ist für Juden (und andere) in unserer Mitte weithin zu einem Schre¬ckenszeichen geworden, das sie nur fürchten und verfluchen konnten.
Unsere christliche Krankheit der Judenfeindschaft und der Selbstüberhebung gegenüber Israel hat entscheidend zur Schoah, der planmäßig entwickelten und industriell betriebenen Vernichtung von Juden in Europa, beigetragen. Und die „Reichskristallnacht“, wie die Nazis zynisch das Zerschlagen alles menschlichen und materiellen Porzellans in dieser Nacht des 9. November nannten, wäre ohne unsere tiefsitzende Sünde der christlichen Judenfeindschaft so nicht möglich gewesen: die Nazis hätten einen Aufschrei und den Widerstand so vieler Menschen erlebt, dass sie spätestens dann von ihren mörderischen Plänen zur sogenannten Endlösung hätten abrücken müssen, w e n n unser christlicher Glaube und unsere kirchliche Praxis nicht so verdorben gewesen wären durch die Sünde der Kirchen und der Christen.
Nun ist es also an uns, zu schreien aus den Tiefen und Abgründen unserer christlichen Gottlosigkeit und der daraus folgenden Menschenverachtung in Form unserer notorischen Judenfeindschaft. Und die wird bei uns nicht dadurch überwunden, dass wir nun politisch korrekt werden und nur noch freundlich von und mit Juden reden. Sie wird erst da überwunden, wo unser eigener Glaube sich auch über fremden Glauben freuen, wo unser christliches Bekenntnis auch die jüdisch-andere Praxis anerkennen und bejahen kann. Erst unser von Herzen kommendes Ja zum jüdischen Nein kann uns frei machen von ererbter Angst vor den Juden. Dazu müssen bei uns Theologie und Glaube, Liturgie und Praxis tief verwandelt werden. Das kostet Kräfte und Kräche in unserer Kirche. Und das geht uns an die Substanz. Darum wird dieser Psalm 130 für uns zu einem Schrei aus den Abgründen unserer Geschichte: „Wenn Du, j a D U, Sünden beobachtest, ADONAI: wer wird dann bestehen?“ – Wird es dann nicht um unsere Kirche selbst gehen, um ihr Sein oder Nichtsein? Werden wir dann nicht heute gar um unser Überleben als Kirche Christi morgen fürchten müssen?
Wir könnten uns nun natürlich zu McKinsey flüchten und Marketing-Strategien entwickeln für das Überleben der Kirche unter den Bedingungen der liberalen Marktwirtschaft. Aber wird uns das frei machen von diesem Herzschaden der Kirche?
Wir könnten auf religiöse Rezepte setzen und Engel und andere Mittlerwesen einschalten. Es wundert mich nicht, dass Engel in unseren Tagen eine solches revival erfahren. Sie könnten uns vielleicht – so scheint doch die Hoffnung auf Engel zu versprechen - sozusagen auf weicheren Wegen Vergebung, Zuversicht und Trost liefern.
Aber es heißt: „Denn bei DIR gibt es Vergebung, damit man Dich fürchtet“. Bei Gott. An keiner anderen Stelle und bei keiner anderen Instanz ist Vergebung, zu haben. Und ich argwöhne, dass die gegenwärtige Liebe zu Engeln aller Art versucht, unbewusst genau diese Härte des Psalms 130 zu umgehen: „Denn bei DIR ist Vergebung, damit man DICH fürchte.“ – Rabbinische Auslegung besteht an dieser Stelle darauf, dass Vergebung bei Gott niemals delegiert werden kann. Vergebung kann niemals sozusagen auf dem kurzen Dienstweg, auch nicht über den besten aller Engel ausgehandelt werden. Das müssen wir heutigen Christinnen und Christen mit unserer neu entdeckten Freude an Engeln aller Arten nun besonders genau hören.
Wir müssen hier auch darum besonders aufmerksam hören, weil wir ja uns einzubilden gelernt haben, vergeben und vergessen sei so eine Art christlicher Spezialität geworden. Oft genug haben wir in unserer judenfeindlichen Tradition Liebe und Vergebung uns selbst, Gesetz und Rache aber den Juden zugeschrieben. Und oft genug haben wir dann in diesem Selbstbewusstsein der eigenen Liebesreligion Vergebung geradezu gefordert von den Anderen. Und wenn Andere nicht ebenso rasch zum Vergeben und Vergessen bereit waren, wie wir es erwarteten, war damit nur einmal mehr bewiesen, wie nachtragend, rachsüchtig und lieblos die Anderen waren.
Bleiben wir also bei diesem Psalm: „Denn bei DIR ist die Vergebung“, beim Gott Israels! Und so werden wir uns in Geduld üben müssen, eine Leben lang, über Generationen vielleicht auch, bis wir die von Gott uns zugedachte Vergebung erleben, erspüren, erfahren können in menschlicher Münze. Die ganze zweite Hälfte des Psalms 130 spricht vom Warten: „Mein ganzes Leben wartet auf Dein Wort. Mein ganzes Leben auf ADONAI. .. Warte, Israel, auf IHN, denn bei IHM ist Solidarität und viel Vergebung, bei Ihm!“ Beim Gott Israels! Und also niemals ohne Israel, nicht an ihnen vorbei, die wir so lange ausgegrenzt hatten. Warte! – Das ist unsere christliche Situation auch 70 Jahre nach der „Kristallnacht“.
Und nun kehre ich zurück zur rabbinischen Auslegung dieses Maalot-Psalms „Aus Tiefen“. Das Exil ist die Abgrunderfahrung Israels. Aber der Gott Israels ist m i t Seinem Volk ins Exil gegangen. Und darum wird Israels Erlösung aus dem Exil auch die Heimkehr und Erlösung Gottes bedeuten. Und wäre es nicht u m I s r a e l s willen, so könnten wir doch u m G o t t e s willen auf Erlösung hoffen: ER selbst will es, um Seiner selbst, um Seiner Verheißung, um Seiner Liebe willen. Und daran klammere ich mich mit meiner Hoffnung auch für die Kirche und für uns Christen: Um Gottes willen, muss da etwas Neue kommen. Es wird kommen. „ER wird Israel erlösen aus allen seinen Sünden“ – und um Israels und Jesu Christi willen auch uns Christen und Heiden.
Amen
Predigt, gehalten in der Reihe: "Der einfache Gottedienst", reformierte Predigten, Melanchthon-Akademie Köln
Marten Marquardt