Die Psalmen, hat Johannes Calvin gesagt, seien eine „Anatomie der menschlichen Seele“. Es war die Zeit, in der in manchen Städten Europas nachts heimlich Leichen ausgegraben wurden. Das war selbstverständlich streng verboten. Aber Mediziner suchten nach präzisen Angaben, wie denn der menschliche Körper genau aufgebaut ist. Und der große Leonardo da Vinci, der wissenschaftlichen Forscherdrang mit zeichnerischem Können verband, hat das in faszinierender Klarheit festgehalten. Jeder Muskel, jedes Gelenk war präzise dargestellt. Es war die Zeit, in der die Menschen den Dingen auf den Grund gehen wollten.
Die Seele kann man auf diesem Weg nicht finden. Nur Narren hatten gemeint, man könne neben Niere und Milz auch noch ein Organ namens „Seele“ finden. Nein, der Mensch, der sein Leben vom Schöpfer empfangen hat, er besteht aus Leib und Seele. Und als ein Geschöpf Gottes findet er dann zu sich, wenn er auf die Stimme Gottes hört. Er wird dann richtig Mensch, wenn er sich auf die Anrede Gottes einlässt.
Warum dazu gerade die Psalmen? Weil in diesen Gedichten und Liedern schon vor Jahrtausenden Gott und Mensch zusammengekommen sind. Der Mensch, der klagt, der leidet, der an Gott verzweifelt. Aber auch der, der im Vertrauen auf Gott seinen Weg geht, der Gott lobt, der über das Wunder von Gottes Güte staunt. Immer ist in den Psalmen eine menschliche Stimme im Gegenüber zu Gott. Und in dieser Begegnung geschieht es, dass etwas vom Innersten des Menschen enthüllt wird – und manchmal auch, dass etwas vom Innersten Gottes enthüllt wird.
„Die Gnadentaten des HERRN will ich ewig besingen, / von Generation zu Generation deine Treue kundtun mit meinem Mund.“ so beginnt der Psalm 89. Hier redet ein Mensch nicht zuerst von sich selbst, nicht von seinen eigenen Sorgen oder Freuden. Er hebt vielmehr die Augen auf zu dem, der ihm HERR ist. Denn wer bin ich als Mensch in Israel und später als Christenmensch? Ich bin nicht der Mittelpunkt der Welt und nicht ihr Anfang – ich bin ein Teil des Gottesvolkes. Ich lebe von dieser hilfreichen Überlieferung. Von dem Gott, der sein Volk liebt. Von dem Gott, der das Licht seiner Wahrheit gerade dort hat aufgehen lassen. Ja, es ist eine Gnade, dass wir nicht im Dunkeln umhertappen müssen. Wir haben einen Gott, der zu uns geredet hat. Sein befreiendes Wort, das uns frei macht. Und weil das ein gutes Wort zum Leben ist, darum sollen auch die Enkel so wie wir Gott finden. Denn die Geschichte Gottes mit seinem Volk soll ja weitergehen.
Hören wir Verse aus diesem 89. Psalm. Und nähern wir uns mit Johannes Calvin als Ausleger dem Verständnis der Worte. Die Psalmen waren übrigens das einzige Buch aus dem Alten Testament, über das Calvin auch an Sonntagen gepredigt hat. Sonst war der Tag des Herrn bei ihm dem Neuen Testament vorbehalten. Doch in den Psalmen zieht sich für ihn eine Linie von David hin zu Christus, von den Gläubigen des Alten Bundes hin zu uns. Wir alle als Glieder des einen Gottesvolkes, das Gott in seiner Güte angenommen hat.
31 Wenn seine Söhne meine Weisung verlassen / und ihren Weg nicht nach meinen Vorschriften gehen,
32 wenn sie meine Satzungen entweihen / und meine Gebote nicht halten,
33 werde ich ihr Vergehen ahnden mit dem Stock / und mit Schlägen ihre Schuld.
34 Doch meine Gnade will ich ihm nicht entziehen, / und meine Treue will ich nicht brechen.
35 Ich will meinen Bund nicht entweihen / und den Spruch meiner Lippen nicht ändern.
36 Ein für alle Mal habe ich bei meiner Heiligkeit geschworen, / und wie sollte ich David belügen:
37 Ewig soll seine Nachkommenschaft bestehen / und sein Thron wie die Sonne vor mir,
38 wie der Mond, der ewig fest steht, / ein treuer Zeuge in den Wolken.
Diese Worte richten sich nicht an die Bösen – sagt Calvin – nicht an die, die Gottes Namen missbrauchen wollen, um sich damit in ihrem Unrecht zu bedecken. Die Psalmen reden nicht objektiv über die Sünden der Menschen, so wie ein Arzt über Krankheiten redet. Sondern sie richten sich an die, die sich immer an diesem Fundament festhalten, die nämlich die Vergebung ihrer Sünden mit Buße suchen. Wir reden also, wenn wir die Psalmen lesen, von Menschen, die glauben wollen, zu anderen Menschen, die auch glauben wollen.
Und wenn da so viele Ausdrücke stehen: Weisung, Satzungen, Gebote – so hat das einen guten Grund: Da stehen viele Begriffe – damit wir keine Ausrede haben, sagt Calvin: „Weil es ja viele gibt, die sich entschuldigen: Ach ja, ich habe noch nicht genug davon gewusst. Doch im Gegenteil – es steht dazu da, dass wir die Augen öffnen, um die Klarheit Gottes zu betrachten – dann können wir niemals in die Irre gehen.“
Die Klarheit Gottes! Immer wieder der Hinweis darauf, dass es inmitten all der widersprüchlichen Dinge, die mich umgeben, dass es mitten in dem Getöse der Welt, das mich irre macht, den einen guten Weg gibt. Und das ist nicht der Weg, auf dem alles verboten ist, es ist der Weg, auf dem sein Volk sich in ihm erfreut.
Dazu ist Gottes Wort da und dazu ist es auch gut. Nur: Wir Menschen sperren uns immer wieder dagegen. Wir wollen uns von Gott nicht unterweisen lassen. Statt dass wir mit Leib und Seele, mit den Ohren und mit dem Herzen zuhören – was tun wir? Man erfindet so viele Dienste (so viele religiöse Anweisungen und Vorschriften) – und alles geht durcheinander. Und so hat man sich über Gott in der ganzen Papstkirche lustig gemacht und macht es noch heute.
Das beobachtet Calvin immer wieder an den Menschen: Sie verzetteln sich, sie wollen sich nicht aufs Wesentliche konzentrieren. Statt dessen geben sie sich lieber mit Nebensächlichkeiten wie Messgewändern und Kerzen ab, mit Wallfahrten nach hierhin und dorthin. Er hält das für ein Verspotten Gottes. Als ob es Gott auf solche Kleinigkeiten ankäme und nicht darauf, dass man seine Stimme hört.
„Ich werde ihr Vergehen ahnden mit dem Stock / und mit Schlägen ihre Schuld“. Solche Worte, wie sie der Psalm ausspricht, hören wir nicht gern. Vielfach lassen wir sie beim Vorlesen einfach weg. Aber – sagt Calvin - Gottes Erbarmen ist nicht dazu da, uns in unseren Sünden noch zu schmeicheln. Gott ist doch kein Schönredner. Er will doch uns Menschen nicht einfach in unserer Erbärmlichkeit lassen, sondern uns da herausziehen. Er nennt nicht das Böse an uns gut. Darum: Die Gläubigen sollen sich darauf einstellen, die Veränderungen, die Gott an uns vornimmt, in Demut anzunehmen.
Also: Nicht wir machen uns Gedanken über Gott. Wie er wohl sein könnte. Sondern Gott tut etwas mit uns – und wir sind dazu aufgerufen, ihn an uns wirken zu lassen. Denn: Ohne Gottes Korrekturen sind wir wie rebellische Pferde.
Aber – so fragen wir zurück – was haben wir denn vom Glauben? Wenn es uns doch gar nicht besser geht. Darin unterscheiden wir uns von den Ungläubigen: Wenn Gott einem Ungläubigen einen Schabernack schickt, ist der ganz durcheinander. Er weint, er peinigt sich, und nimmt in seinem Übel keinerlei Trost an, wie klein der auch sei. Was sollen wir daraus lernen: Dass wir nicht nachlassen, auf unseren Gott zu vertrauen, dass wir (zwar von uns aus) des ewigen Todes würdig sind – und dennoch immer von ihm aufgenommen werden, wir ihn in aller Demut um Vergebung bitten.
Wir lernen, wer wir als sterbliche Geschöpfe sind. Wir lernen, mit den Rätseln des Lebens umzugehen. Wir lernen dabei aber auch, wer unser Gott ist: Er beugt sich herab zu unserer Schwäche, nämlich bis dahin, dass er seinen heiligen Namen zum Vertrauen gibt, damit sein Wort in uns ganz fest werde.
Dabei kennt Gott die Menschen besser, als sie sich selbst kennen. Denn wir stoßen immer wieder an unsere Grenzen. Die Grenzen dessen, was wir wissen können, was wir glauben können. Und so nimmt Calvin die Worte des Psalms auf vom Mond, der ewig steht. Es scheint uns, als ob wir nicht weiter als bis zu den Wolken gelangen können, nämlich dass wir etwas wahrnehmen durch unsichere Vorstellungen und nicht die Macht von Gott selber erfassen. Das kennen wir ja auch: Diese ungefähre Ahnung, dass da noch etwas kommen muss, dass hinter dem Sternenzelt ein guter Vater wohnen muss (wie es Friedrich Schiller sagt). Aber ob er das wirklich tut? Von uns aus gelangen wir nicht zu der nötigen Klarheit.
Aber wenn wir uns die Augen öffnen lassen, dann geschieht eben das: Gott aber beugt sich herab zu unserer Kleinheit. Und darum führt er uns sichtbare Dinge wie Sonne und Mond vor. Er breitet (mit dem, was wir an Herrlichkeit der Schöpfung wahrnehmen) seinen Ruhm aus, um uns zu dienen.
Und so stellt Calvin am Schluss seiner Auslegung fest: Es ist wahr, wir stellen viele Veränderungen in der Welt fest. Und es ist wahr, dass sich die Welt ändern muss, um erneuert zu werden. Am Himmel sind die Dinge fester und zuverlässiger als auf der Erde – so gibt Gott uns Sonne und Mond als Spiegel und Beispiele, um uns fest zu machen in seiner Wahrheit und uns seine Güte und Barmherzigkeit zu versichern. Amen.
Calvins Predigt über Ps 89, 31-39 ist abgedruckt in den Supplementa Calvinina Vol. VII, Psalm- und Festpredigten. Neukirchen , S.64-71. Übersetzung durch den Verfasser. Die Übersetzung richtet sich nach dem Gebrauch in der Predigt, Auslassungen innerhalb der Sätze sind nicht eigens kenntlich gemacht.