Von Mitbestimmung zu Mitgefühl

Mittwochskolumne von Paul Oppenheim


Revolution ist oft mit Hass verbunden © Pixabay

„Alle 50 Jahre braucht man eine Revolution“ meinte eine Sprecherin der Gelbwesten aus Frankreich. Der Mai 1968 bleibt den Franzosen nicht nur als Studentenrevolte, sondern als Revolution des ganzen Volkes in Erinnerung, als Anfang vom Ende der Ära de Gaulle.

Weit über Frankreich hinaus breitete sich damals die 68er Bewegung aus. Es war vor allem eine Bewegung für mehr Mitbestimmung, für mehr Teilhabe der Bevölkerung an allen Entscheidungen in Wirtschaft, Bildungseinrichtungen und Politik. 50 Jahre später glauben viele nicht mehr daran, dass ihre Stimme zählt. Es sind die „Abgehängten“, die sozial Schwachen, Mindestlohnempfänger, Arbeitslose, Kleinrentner, die sogenannten „kleinen Leute“. Sie glauben nicht mehr daran, dass es sich lohnt, zur Wahl zu gehen. Sie glauben nicht mehr an Mitbestimmung oder repräsentative Demokratie. Sie sind einfach wütend.

Aus einem Gefühl der Ohnmacht heraus schreien sie „Weg mit Macron“, „Weg mit Merkel“. In Hassparolen kommt ihre Wut zum Ausdruck gegen „die da oben“. „Die Regierenden und die Reichen stecken unter einer Decke“ meinen sie, und: „Politik ist Politik für die Wohlhabenden“. Dieses weitverbreitete Gefühl verhalf Trump zum Sieg, es verhalf den Populisten in Italien zum Sieg und war es nicht auch das, was letztlich einem Friedrich Merz in der CDU zum Verhängnis wurde?

Gefordert wird nämlich Mitgefühl. Herrschende, Mächtige, Gewählte, „die da oben“, sie sollen Mitgefühl zeigen. Gefragt ist eine Politik des Mitgefühls. Politikerinnen und Politiker sollen nicht abgehoben wirken, nicht distanziert oder nüchtern, sondern empathisch. Emanuel Macron wurde vorgeworfen, dass er „kalt und arrogant“ sei. Nun gibt er sich verständnisvoll, wobei es gar nicht auf die Geldgeschenke ankommt, die er verteilt oder auf irgendwelche Reformen, die er vertagt, sondern darauf, ob es ihm gelingt, sich als mitfühlender Regent neu zu erfinden.

Vielleicht ist das alles nur Show, wie es uns die Nachrichtensendungen im Fernsehen längst vormachen. Da genügt es nicht mehr, sachlich über Nachrichten zu berichten. Es muss dramatisch klingen und Emotionen wecken. Es geht nicht um korrekte Berichterstattung, es geht ums Gefühl, um Empörung, Wut, Ärger über Missstände, über die Arroganz der Mächtigen und das Unrecht allenthalben.

Von Politikern und Wirtschaftsführern wird heutzutage vor allem Empathie erwartet. Mitgefühl wird zur politischen Kategorie. Das lässt uns vor Weihnachten aufhorchen, wo es doch darum geht, dass sich Gott seines Volkes erbarmt hat. So ließe sich von Gottes Mitgefühl in Jesus Christus sprechen, das zum Maßstab des Handelns auch in Politik und Wirtschaft werden sollte. Vom politisch engagierten amerikanischen Mönch Thomas Merton stammt der Satz: „Mitgefühl ist das wache Bewusstsein dafür, dass alle Dinge voneinander abhängen.“


Paul Oppenheim