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Glaube an Gott und „Idee Mensch“ nach Auschwitz
Von Emil L. Fackenheim
Dieses mir aufgetragene Thema könnte zu jeder Zeit neues Denken provozieren: bei den Philosophen über das Menschsein und bei den Theologen über Gott - mindestens wenn der Gott Abrahams ihr Gott ist. Als aber Yad Vashem dieses Thema formulierte, konnte niemand ahnen, wie nahe wir bei apokalyptischen Ereignissen sind: in Israel, in den Ländern des Mittleren Ostens, in Europa, in den USA und in den Vereinten Nationen. Der Philosoph Hegel sagte, die „Weltgeschichte“ sei unvorhersehbar. Bochum ist die erste deutsche Universität, die mich wegen meiner Arbeit an Hegel geehrt hat. Hegel sagte zwar, Philosophie sei die „Eule der Minerva“, die zu fliegen anfängt, wenn der Tag der Arbeit vorbei ist. Wie ungewiß die Zukunft der Weltgeschichte ist, hat aber auch Hegel nicht geahnt.
Der Titel dieses meines ersten Vortrags in Deutschland könnte auch lauten: „Jerusalem nach Auschwitz“. Schon in biblischer Zeit gab es das Thema „Jerusalem nach der Rückkehr aus Babylon“. Auch für dieses Land muß es Hoffnung auf Rückkehr geben - trotz Hitler. Es wäre gut, die „goldene Zeit“ der Philosophie von Kant bis Hegel zu wiederholen! Die Wiederholung muß aber die zwölf Hitlerjahre einbeziehen, in denen Deutschland dem jüdischen Volk und der ganzen Welt Katastrophales angetan hat - und auch der philosophischen Idee Mensch und dem religiösen Glauben an Gott. Man soll nicht denken, daß nach Auschwitz die Idee Mensch und der Glaube an Gott bleiben können, wie sie gewesen sind.
Deutsche Philosophen müssen sich fragen: „Wie war die Hitlerisierung des Kant’schen Kategorischen Imperativs möglich?” Ein Nazibonze hat in einem Buch geschrieben, kein Deutscher sollte fragen, was Pflicht sei, jeder sollte fragen, was Hitler sagt, daß Pflicht sei. Es gab „ein Reich, ein Volk, einen Führer”, und sonst gab es nichts.
Philosophen sollten darüber nachdenken, was nach Auschwitz die Idee Mensch ist, und Theologen, wie nach Auschwitz Glaube an Gott möglich ist, zumindest an den Gott Abrahams.
Als meine Familie von Toronto nach Jerusalem zog, wurde nicht über unseren kleinen Schritt nachgedacht, sondern über einen wahrhaft „weltgeschichtlichen” Schritt. Es wurden Fragen über Gott und Mensch beantwortet, in einer Zeit, die selbst weltgeschichtlich war: als ein paar jüdische Stämme beschlossen, von Babylon nach Jerusalem zurückzukehren: Will Gott diese Rückkehr? Benutzt Er den Perserkönig Cyrus als Werkzeug? Das war der erste Zionismus. Wäre niemand zurückgekehrt, dann wäre die jüdische Geschichte zu Ende gekommen als ein Geschichte „verlorener Stämme”, und es hätte weder eine christliche noch eine islamische Geschichte angefangen.
Im Bar-Mitzvah-Unterricht hat uns Rabbiner Albert Kahlberg in Halle an der Saale beigebracht, daß Christentum und Islam „Tochterreligionen” der jüdischen Religion sind. Ich habe mich seitdem immer gefragt, warum die „Töchter” oft so feindlich zur „Mutter” sind. Zwar hat die eine nach „Auschwitz” gelernt, die „Mutter” nicht mehr zu „verachten”, aber mit der anderen ist es schlimmer denn je.
Die richtige Zeit und der richtige Ort
Mit 86 Jahren bin ich alt genug, Reinhold Niebuhr und Karl Barth getroffen zu haben. Ich kannte Hans Jonas ziemlich gut, und - noch wichtiger -, ich war zwei Jahre Schüler bei Leo Baeck. Martin Buber und Leo Strauss betrachtete ich als meine Vorbilder. Daher frage ich, was diese großen christlichen und jüdischen Denker heute, nach Auschwitz, nach dem 11. September 2001 und inmitten der zweiten Intifada denken würden. Ich fürchte, auch sie wüßten heute nichts zu sagen. Dietrich Bonhoeffer habe ich nie getroffen, aber ich hatte gute Beziehungen mit seinem Freund und Biographen Eberhard Bethge. Ich hatte Bethge schriftlich gefragt, ob sein Freund, hätte er überlebt, eine „christliche Theologie- nach-Auschwitz” angefangen hätte. Diese scheint mir, wie auch Bethge, dringender zu sein als Martin Luthers Reformation. Allerdings mag das etwas damit zu tun haben, daß ich aus Halle stamme, drei Semester (1937-1938) an der Martin Luther Universität Halle-Wittenberg studiert habe, und daher die Reformation nicht so ernst nehme: Den Ort, von dem man kommt, hält man nicht für so wichtig.
Ich bin ausgerechnet in dem Jahr (1916) geboren, als die Regierung des Kaisers anordnete, festzustellen, welche Juden im Kriege tapfer dienten und welche Drückeberger waren. Diese Anordnung war der Anfang des Nazismus. „Arische” Soldaten betrachteten „nicht-arische” nicht mehr als Kameraden, sondern mit Mißtrauen: „Bist du heimlich ein Drückeberger? Willst du weg von der Front als Teil einer Verschwörung?” Diese Anordnung beleidigt mich immer noch. Mein Onkel Willi Schlesinger, der Bruder meiner Mutter, war schon zur Zeit meiner Geburt gefallen. Ein zweiter, Louis Stern, der Mann meiner Tante Trude, überlebte Theresienstadt als Kriegserblindeter, und der dritte, Adolf Goldberg, der Mann meiner Tante Erna, hatte im Weltkrieg ein Bein verloren, und wurde später von der SS vergast.
Ich denke, eine Reformation, die Katholiken und Protestanten zusammenbringt, ist nötig, und die sollte von Deutschland ausgehen. Zwar konfrontieren weder Papst Johann Paul II. noch die christliche Theologie den Holocaust, so wie er wirklich war, doch der Titel der Tagung Good and Evil After Auschwitz: Ethical Implications for Today, die 1997 in Rom stattfand,1 und an der ich mit Katholiken, Protestanten und Juden aus Amerika, Europa und Israel teilnahm, sagt genug.
Das 614. Gebot
Schon vor dreißig Jahren habe ich das 614. Gebot “Es ist Juden verboten, Hitler einen posthumen Sieg zu geben”, formuliert.
Die jüdische Tradition lehrt 613 „mündliche“ Gebote, aufgeteilt in 365 Verbote und 248 Gebote, die aber ”schriftlich” alle auf die jüdische Bibel zurückgehen. Diese Gebote und Verbote sollen jede Lebenssituation erschöpfend umfassen. Heute, da wir vieles über den Holocaust wissen, was uns damals, als ich das Gebot formulierte, unbekannt war, bin ich noch überzeugter, daß die 613 Geboten weder Hitler noch Auschwitz voraussehen. Darum ist jetzt ein 614. Gebot nötig. Man könnte sagen, „Auschwitz hat das Gebot geoffenbart”.
Das 614. Gebot unterteilte ich schon bei der ersten Formulierung in zwei Gebote und zwei Verbote. Die Gebote sind:
- Die sechs Millionen ermordeten Juden dürfen nicht vergessen werden;
- trotzdem als Juden weiterzuleben.
Die Verbote sind:
- nicht an der „Idee Mensch“ zu verzweifeln;
- nicht an Gott zu verzweifeln.2
Der Historiker Raul Hilberg schreibt zur Einzigkeit des Holocaust: “Als in den frühen Tagen von 1933 der erste Bürokrat die erste Definition von ‚Nichtarier‘ niederschrieb, war das Schicksal der Europäischen Juden besiegelt.”3
Wo gab es jemals einen Genozid - wird es jemals einen geben! - der mit der Definition der Opfer beginnt und mit der Vernichtung in Gaskammern endet? Man sage nicht, dies sei nur gründlich, sozusagen nur teutonisch, nur quantitativ. Bedeutend ist, daß es auch qualitativ ist, theologisch und philosophisch, denn wie konnten „gewöhnliche Menschen” nicht-arische Säuglinge ermorden, noch bevor die männlichen (als Juden) beschnitten waren? Wie konnten sie Opfer in Gaskammern töten, nachdem sie ihnen vorgegaukelt hatten, es seien Duschen, so daß sie nicht einmal das Sh’ma Yisrael, 4 das jüdische Bekenntnis vor dem Tod beten konnten? Kein Theologe, sei er jüdisch oder christlich, kann ignorieren, daß der Angriff nicht nur auf die jüdische Rasse, sondern auch auf den jüdischen Glauben, ja, ein Angriff auf Gott selbst war. Und ist der Gott Israels nicht auch der Gott Abrahams? Und müssen nicht Theologen sagen, daß es auch ein Angriff auf andere an den Gott Abrahams Glaubenden war, nämlich auf Christen und Moslime?
Primo Levi und die deutsche Philosophie
Als ich das 614. Gebot formulierte, hatte ich noch nicht von Primo Levi gehört. Als Überlebender von Auschwitz schreibt Levi: “Ihr Leben ist kurz, aber ihre Zahl endlos, sie, die Muselmänner, die Ertrunkenen, sind das Zentrum des Lagers, immer erneut und immer dieselben, ‚Nicht-Menschen‘, die schweigend marschieren und arbeiten, der göttliche Funke in ihnen tot, schon zu leer, um wirklich zu leiden.” Dann wird Levi plötzlich zum Philosophen: “Man zweifelt, sie lebend zu nennen, man zweifelt, ihren Tod Tod zu nennen.”5
Eingangs habe ich versucht, Anfang und Ende der Opfer zu begreifen, d. h., Geburt und Gaskammern. Levi begreift sie aus der Mitte, aus ihrem Wesen. Es dauerte beinahe dreißig Jahre, bis Primo Levi schreiben konnte, daß die Opfer auch Zeugen waren: “Als die Zerstörung vorbei war, wurde deren Arbeit von keinem berichtet, genau so wie niemand vom eigenen Tod zurückkehrt. Selbst hätten sie Papier und Bleistift besessen, hätten die Muselmänner nicht von ihrem Tod berichtet, denn dieser begann schon vorher, mit dem Tod ihres Körpers. Wir zeugen von diesem Tod, als Stellvertreter.”6
Das war ein tief philosophischer Gedanke über Leben und Tod, über das Wesen der Opfer. Paul Baily schreibt: „Sie wurden nicht nur zerstört. Ihre Existenz wurde ausgelöscht”.7 Aber wer zeugt von den Opfern jetzt, da Levi nicht mehr lebt? Nur die Philosophie bleibt, sogar über die Theologie hinaus, für und gegen den Menschen, für und gegen Gott. Levi sagte es selbst, als er einen Mitgefangenen - Opfer wie er - beten hörte.
In der „dunklen Zeit”, schon vor 1933, hat wohl kein Philosoph Tieferes geschrieben als Martin Heidegger. In „Sein und Zeit“ beschreibt er, daß der Mensch endlich ist, daß aber seine Freiheit darin besteht, die eigene Endlichkeit zu konfrontieren, und sie dadurch zu überwinden. Heidegger wußte nichts von Primo Levi, wohl aber vom Holocaust: „Ackerbau ist jetzt motorisierte Ernährungsindustrie, im Wesen der Sache dasselbe wie die Fabrikation von Leichen in Gaskammern und Vernichtungslagern, dasselbe wie die Fabrikation von Wasserstoffbomben.“8
Auch Raoul Hilberg hat, wie Primo Levi, den Massenmord von Menschen „existentiell” erfaßt, einschließlich der moralischer Entscheidungen. Der Philosoph Heidegger dagegen flieht vor der Verantwortung in die anonyme Allmacht der Technik und hofft, sie mystisch zu überwinden. „Nur ein Gott kann uns noch helfen”, schreibt er nach Hitlers Krieg. Aber mit dem Gott Abrahams, mit dem Gott Israels, hat dieser Gott nichts zu tun.
Von derartiger Flucht war bei dem Protestanten Eberhard Bethge keine Rede, und auch nicht bei dem Katholiken Johann Baptist Metz. Dieser schreibt: “Die Toten von Auschwitz hätten alles verändern sollen; nichts hätte dasselbe bleiben sollen, in unserer Nation, in unseren Kirchen. Besonders in unseren Kirchen.”9
Rückkehrende Überlegung
Einst pflegte man in Deutschland sich des „Unbekannten Soldaten” mit wirklicher Trauer zu erinnern. Jetzt gibt es „Selbstmordattentäter”. Diese Mörder von Frauen und Kindern bleiben nicht „unbekannt“. Sie werden nicht betrauert, sondern mit Freuden gefeiert, denn sie sind „Märtyrer”. Sie sind der beste Beweis, daß Hitler immer noch siegt, und daß das 614. Gebot immer noch richtig ist: Es muß eine Hölle geben, denn Hitler gehört hinein; aber er lacht dort. Vom Lachen in der Hölle hat wohl noch kein Theologe geschrieben, auch Dante nicht.
Ich bin der Meinung, daß Yitzhak Rabin den Nobelpreis hätte ablehnen sollen. Er hätte sagen sollen, „Ich werde ihn akzeptieren, wenn wirklich Friede ist, nicht bloß Wunschdenken.”
Mein Begriff „Nach Auschwitz, Jerusalem” ist „theo-politisch”. Sicher muß es Meinungsverschiedenheiten geben, theologische wie auch politische. Aber ich habe keinen Zweifel, daß richtiger Dialog, wie seinerzeit Martin Buber ihn wollte, aber nur selten konnte, für uns möglich ist, besonders da die Notwendigkeit von jüdischer wie christlicher Theologie nach Auschwitz uns näherbringt.
Hegel hatte ein „jüdisches Problem”, denn jüdische Existenz paßte nicht in sein System. Doch er nahm sie ernst und, im Unterschied zu fanatisch-muslimischer „Hartnäckigkeit”, fand er die jüdische Hartnäckigkeit „bewunderungswürdig”. Sie wollte keinen bekehren. Sie hoffte nur, daß am Ende die Völker von sich aus Gott anerkennen würden.10 Hegel bewunderte Hiob. Dieser Weise der jüdischen Bibel unterwirft sich Gottes Gerechtigkeit, verliert zunächst alles, und bekommt am Ende alles zurück. ”Und Hiob lebte danach noch hundertundvierzig Jahre und sah Kinder und Kindeskinder bis in das vierte Glied. Und Hiob starb alt und lebenssatt” (Hiob 42,16-17). Damit endet das Buch Hiob. Mein Onkel Adolf Goldberg glich Hiob in einer Hinsicht. Mit neunzehn Jahren hatte ich meine erste Predigt und Onkel Adolf kam, sie zu hören.
Mein Thema war Psalm 115,17: ”Nicht die Toten loben Dich, sondern wir, die Lebenden.” Ich interpretierte „die Toten” symbolisch als „geistig Tote”. Aber Onkel Adolf korrigierte mich: Die Toten sind wirklich tot. Mein Onkel hatte ein viel zu kurzes Leben und bekam nichts zurück. Was denken Menschen, bevor sie vergast werden, falls sie es wissen? Onkel Adolf war wohl der letzte jüdische Rechtsanwalt, der aus Halle deportiert wurde, zuerst nach Buchenwald - als Strafe -, dann zur Vergasung nach Bernburg. Als Strafe wofür? Daß er für Deutschland gekämpft hat, sein Bein verlor? Und wie starb er? Ich habe mich oft gefragt, weiß aber keine Antwort. Obwohl es schon lange vorbei ist, frage ich immer noch: Wie starb Onkel Adolf. Vielleicht, trotz allem, wie Hiob.
Anmerkungen:
1. Jack Bemporad, John T. Pawlikowski, Joseph Sievers, Good and Evil after Auschwitz. Ethical Implications for Today, Hoboken, N. J., Ktav 2000. Vgl. FrRu 5[1998], 144 f.
2. Emil L. Fackenheim, God’s Presence in History, Northdale, N.J.; Jerusalem, Jason Aronson, 1997, 84-95.
3. Raul Hilberg, The Destruction of the European Jews: Revised and Definitive Edition, New York, Holmes & Meier, 1985, 1044.
4. Vgl. Deut 6,4, das Gebet des Juden im Angesicht des Todes.
5. Survival in Auschwitz, New York, Collier 1961, 82.
6. The Drowned and the Saved, London, Abacus 1989, 64.
7. op.cit. p.ix.
8. Zitiert in J.F.Lyotard, Heidegger und „die Juden” (Paris: Passagen 1988), p. 98.
9. Vgl. J. F. Lyotard, Heidegger und „die Juden“, Passagen, Paris 1988, 98.
10. Vgl. Georg Lasson (Hg.), Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Meiner, Hamburg 1966, 79.
Quelle: Homepage des Internationalen Rats der Christen und Juden
Emil L. Fackenheim
Emil Ludwig Fackenheim, geb. 1916 in Halle, gest. 2003 in Jerusalem, Rabbiner und Philosoph, 1938/39 kurzzeitig im KZ Sachsenhausen inhaftiert, 1940 Emigration nach Kanada, dort bis 1984 zunächst als Rabbiner dann als Professor für Philosophie an der Universität von Toronto tätig. 1984 Übersiedlung nach Jerusalem, Lehrtätigkeit an der Hebrew University of Jerusalem.
Fackenheim gilt als einer der maßgeblichen Vertreter der sogenannten "Holocaust-Theologie". Im Mittelpunkt seines Denkens steht das Problem der Offenbarung, Israels Verhältnis zu Gott und die jüdische Identität vor dem Hintergrund der traumatischen Erfahrung des Holocaust. Wichtigste Werke: God's Presence in History (1972), To Mend the World (1982).
Emil L. Fackenheim