Du sollst nicht ehebrechen!

Predigt zu 2. Mose 20, 14


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Wir müssen das Gebot zurückholen, um unsretwillen, um der Fülle des Lebens. Wir müssen es zurückholen als Grenze gegen die Einbrüche, Ausbrüche und Abbrüche.

Ganz kurz ist heute der Predigttext: „Du sollst nicht ehebrechen!>, oder, in der Übersetzung, die wir zum Eingang gehört haben, „Nicht wirst du eine Ehe brechen!“, das zweite Wort der zweiten Tafel, das siebte Gebot nach jüdischer und reformierter Zählung.

Liebe Gemeinde,

es gilt nicht viel heute in der Welt, dieses Wort, fassen wir es als Verheißung der Treue oder als Gebot der Beschränkung. Es gilt nicht viel, zu alltäglich ist das Zerbrechen von Beziehungen und zu bedrängend die Sehnsucht nach Liebe, zu laut wird das Recht auf Glück proklamiert, zu gewöhnlich und oft gehört der Rat, durch Seitensprünge einer müde gewordenen Beziehung wieder auf die Sprünge zu helfen. Zu ernüchternd ist die Doppelmoral der Wohlanständigkeit und zu durchsichtig sind die patriarchalen Machtinteressen, die mit diesem Wort durchgesetzt wurden.

Es gilt nicht viel, dieses Wort, und es ist nicht einmal ausgemacht, inwiefern ihm Geltung verliehen werden soll, denn es ist nicht einmal ausgemacht, worum es eigentlich geht, auch, wenn es so einfach zu verstehen scheint. Ich möchte mich darum mit Ihnen auf den Weg durch die Zeiten machen, um zu verstehen, was gemeint ist, was heute gemeint sein kann und wie diesem Wort heute Geltung zu verschaffen ist.

I.

Lesen wir die fünf Worte, die fünf Gebote der zweiten Tafel im Zusammenhang. Im hebräischen Text der Fassung aus dem fünften Buch Mose sind sie auch alle mit „und“ verbunden. Dann wird deutlich, dass sie alle dem Schutz des Lebens, des Zusammenlebens dienen, als hätten sie eine gemeinsame Überschrift, die Bitte oder das Gebot: Zerstört das Leben nicht!

Zerstört das Leben nicht, das sollen wir hören, wenn es heißt:

Nicht wirst du töten
und nicht wirst du eine Ehe brechen
und nicht wirst du stehlen
und nicht wirst du aussagen gegen deinen Nächsten durch Lügenzeugnis
und nicht wirst du aus sein auf das Haus deiner Nächsten
und nicht wirst du aus sein auf die Frau deines Nächsten, weder auf deren Sklaven oder Sklavin, ihr Rind oder ihren Esel, noch auf irgendetwas, das deinen Nächsten gehört.

Zerstört das Leben nicht – Respekt wird verheißen und gefordert, Respekt vor der Lebenssphäre des und der anderen, Grenzüberschreitungen, Übergriffe, Einmischungen in den persönlichen Bereich werden verboten, Abstand wird angemahnt. Wer die persönliche Sphäre der anderen nicht achtet, beraubt sie ihrer Sicherheit und zwingt sie zu ständigem Mißtrauen und stört damit, zerstört damit ihr Leben. In diesem Zusammenhang heißt es auch: Stört die Liebe nicht! Stört die Beziehungen nicht, denn damit tastet ihr das Leben der anderen an. Wozu das führen kann, erzählt die Bibel mit dem Schicksal von David und Bathseba.

II.

Sie kennen die Geschichte: „Da sah David vom Dach aus eine Frau sich waschen; und die Frau war von sehr schöner Gestalt. Und David sandte Boten hin und ließ sie holen“ (2.Sam. 11). Vielleicht wird hier am besten deutlich, was zu Anfang mit Ehebruch gemeint war: Es beginnt mit dem begehrlichen Blick von oben herab, der Mann, der König, nimmt sich, was er will und holt die Frau des Anderen in sein Bett, und als der sich das Kind nicht unterschieben läßt, findet der König Mittel und Wege, ihn umzubringen.

Ehebruch als Einbruch eines Mannes in die Ehe eines anderen Mannes, Einbruch in die Lebenssphäre eines anderen, dessen Leben dadurch zerstört wird. Es scheint einfach zu sagen: So sollst du nicht tun. Das Motiv: Begierde, unbegrenzte Gier. Eigentlich hat David genug schöne Frauen, aber diese hier, auf die sein Blick fällt, die will er auch noch haben.

Unkommentiert und ungesühnt bleibt das nicht: der Prophet, Nathan, hält dem König den Spiegel vor: Er, der alles zum Leben hat, raubt einem anderen das, was der zum Leben braucht: Du bist der Mann! Der Einbrecher, der Räuber, der Lebenszerstörer. David tut Buße, die Frau darf er darum behalten, das Kind stirbt.

Die Geschichte der Auslegung in Gemälde, Erzählung und Verfilmung geht meist sanfter mit David um als Nathan: Der Einbruch wird umgedeutet zur Liebesgeschichte, denn Liebe scheint ein verzeihlicheres Motiv als Gier. Bathseba, die kaum etwas tut in der biblischen Geschichte, denn David zur Verantwortung zu rufen, als sie schwanger ist, wird zu einer der großen Liebenden, und manchmal wird auch ihre verletzliche Nacktheit zur erotischen Inszenierung der großen Versucherin. Damit beginnt, was unsere Sittengeschichte geprägt hat: die Entschuldung der männlichen Gier durch die Stilisierung der Frau zum Inbegriff der Versuchung. Nicht David, der Spanner auf dem Dach, ist verantwortlich, sondern die nackte Frau, die, sich allein und unbeobachtet wähnend, badet.

Ein Frauenhaß hat darin seinen Grund, der vom Einsperren und Verhüllen der Frauen über ihre Brandmarkung als Hure bis zu ihrer Verbrennung als Hexe geführt hat. Eine Sackgasse, in die uns die Betrachtung von außen und die formale Verurteilung „des Mannes“ oder „der Frau“ führt, die Betrachtung von Menschen als Typen oder Klischees, über die wir ach so gut Bescheid wissen. Eine Sackgasse, die erst verlassen wird, wenn wir lernen und uns die Mühe machen, Menschen in ihrer unverwechselbaren Einzigartigkeit wahrzunehmen.

III.

Das Leben lehrt uns, dass das Zerbrechen von Beziehungen der allgemeinen Beschreibung nicht zugänglich ist. Es geht, so wissen, glaube ich, die meisten von uns, immer um die besondere Geschichte einzelner, besonderer Personen, und wir nehmen zu recht die Gefühle und Passionen ernst, die der Beteiligten und der Mitbetroffenen:

„Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie dagegen ist unglücklich auf ihre besondere Art.“ Mit diesem Satz beginnt Leo Tolstoi seinen Roman Anna Karenina, der Geschichte des Ausbruchs einer Frau aus einer unglücklichen Ehe, eines Ausbruchs, der zum Aufbruch nicht wird und ihr Leben zerstört, weil ihr außerhalb dieser Ehe der solidarische Mut des Liebhabers und die Luft zum Atmen fehlen.

Ehebruch als Ausbruch, diese Dimension müssen wir dem Verstehen unbedingt hinzufügen. Mir fallen als Beispiele vor allem weibliche Romanfiguren des 19. Jahrhunderts ein, eben Anna Karenina, Effi Briest, Emma Bovary, aber es geht nicht bloß um ein historisches Romanthema, sondern um ein auch aktuelles Lebensthema, um Menschen, die sich nicht in die Konventionen zu schicken wissen und sich im Kampf um ihre Eigenständigkeit in Schuld verstricken. Ein eigener Mensch zu werden, darum geht es, ich selbst bleiben oder werden, nicht zur Spielfigur im Leben eines anderen werden, nicht in einer kaum selbstgewählten Rolle ersticken.

Nicht Gier ist hier das Motiv von Ehebruch, auch nicht Egoismus oder frivoler Mutwillen, auch nicht der ungebremste Drang zur Selbstverwirklichung, sondern das unabweisbare Bedürfen, das notwendige Brauchen von Lebensraum. Manchmal brechen wir aus, um leben, weiterleben, wieder leben zu können. Manchmal müssen wir ausbrechen, um unsere Würde zu wahren oder zurückzubekommen.

Und wie könnten die, die auch nur den geringsten Teil dieser Gefühle kennen, vollmundig einen solchen Ausbruch verurteilen und den ersten Stein werfen? Vielleicht fällt Ihnen wie mir die biblische Geschichte der Ehebrecherin ein, die Jesus nicht verurteilt, weil er spürt oder weiß, dass es gar nicht um sie oder ihren Fehler geht, sondern um die Interessen ihrer Ankläger. Müssen wir da nicht die Steine liegen lassen und uns die ganze Geschichte erzählen lassen?

„Jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre besondere Art“ – es wird schwierig, zu verstehen, was Ehebruch ist, wenn wir nicht nur an die Einbrüche denken, sondern auch die Ausbrüche wahr- und ernstnehmen. Es wird schwierig, zu verstehen, was da verboten ist, wenn wir die Konflikte mitfühlen, uns in die Lebensgeschichten hineinfühlen. Wie kann man diesen Geschichten gegenüber die Geltung des „Du sollst nicht ehebrechen“ beschreiben? Müssen wir es aufgeben, als Gebot außer Kraft setzen und damit auch die Verheißung verlieren? Es will so scheinen.

IV.

„Richte dich ein. Und halte die Koffer bereit“ – das ist es, was bleibt, so schreibt Mascha Kaleko in dem Gedicht „Rezept“. Die Vorläufigkeit, die Zerbrechlichkeit von Ehe und Beziehung akzeptieren, erwarten, wieder ausziehen zu müssen, wo wir uns eingerichtet haben, bereit sein, auszuziehen aus der gemeinsamen Wohnung oder immerhin aus der Gemeinsamkeit. Ehebruch ist oft genug der Abbruch von Beziehung, Trennung ist nicht nur ein anderes Wort für Scheidung, sondern auch ein anderes Wort für Ehebruch. Und dann ist es ganz egal, ob es da jemand anderes gibt.

Abbruch von Beziehung kann auch geschehen, wenn die Ehe äußerlich intakt bleibt, vielleicht ist dann die Einsamkeit und der Schmerz des, der Alleingelassenen noch bitterer, die Treue schlimmer enttäuscht, als wenn da wirklich eine Affäre von außen die Ehe zerbricht. Wir kennen das, diesen Abbruch der Gespräche, des gemeinsamen Lachens, des einander wortlos Verstehens, der liebevollen Gesten, der gemeinsamen Pläne. Wir kennen den Abbruch der Brücken zueinander, den Abbruch der gemeinsam gebauten Luftschlösser, den Abbruch der diplomatischen Beziehungen. Manchmal ist das nur eine Phase, eine Krise, die gemeistert wird, manchmal ist das das Ende der Ehe, manchmal ist das das Ende des Lebens. Auch Abbruch ist ein Aspekt von Ehebruch.

Und wer zurückbleibt, leidet an der enttäuschten Sehnsucht nach Treue, fühlt sich betrogen von der Verheißung der Dauer und möchte wenigstens strafen mit Schuldzuweisung und stellt fest, dass kaum jemand versteht: Das Leben geht weiter, hörst du nach ein paar Wochen, und: Warum hast du nicht die Koffer bereit gehalten? Und: Die Zeit heilt alle Wunden. Und: Warum erwartest du auch soviel? Und vielleicht noch: So ist das Leben nun mal.

„Richte dich ein. Und halte die Koffer bereit.“ Und wenn wir uns nach diesem Rezept richten, uns nie vorbehaltlos einlassen, wenn es uns gelingt, immer die Koffer bereitzuhalten? Dann beschränken wir selbst unser Leben, begrenzen uns selbst, zerstören einen Teil unserer selbst. So weise es klingt, dieses Rezept, es ist zu wenig, ihm fehlt der Überschuss der Hoffnung, und darum müssen wir das Gebot zurückholen, um die Verheißung zurückzugewinnen.

V.

Wir müssen das Gebot zurückholen, um unsretwillen, um der Fülle des Lebens, um unserer Hoffnung auf Unverbrüchlichkeit willen. Wir müssen es zurückholen als Grenze gegen die Einbrüche, Ausbrüche und Abbrüche. Was wir aber nicht zurückholen dürfen, ist der Blick von außen, die Bereitschaft, zu verurteilen, ohne genau hinzusehen, die Verleugnung des eigenen Wissens um die Verwirrung der Gefühle, die Härte des Urteils, mit der wir nur unsere eigene Versuchlichkeit bekämpfen. Was wir nicht zurückholen dürfen, ist das Urteilen ohne Ansehen der Person.

Wenn wir das Gebot zurückholen und in Geltung setzen in unserer Zeit, dann also nicht allzu vollmundig, ein bißchen leise und ohne christliche Selbstgerechtigkeit und ohne zu vergessen, dass wir selbst Töchter und Söhne dieser Zeit sind: Das Gebot muss gelten, das Verstehen muss bleiben. Unsere Kirche hat in einem langen Diskussionsprozeß um Sexualität und Lebensformen einen Begriff dafür geprägt: Gemeinschaftsgerechtigkeit. Daran sollen wir uns orientieren: an der Gerechtigkeit der Gemeinschaft gegenüber, in Abgrenzung von Selbstgerechtigkeit, die nur das Ihre sucht, und formaler Gerechtigkeit, die nicht den Menschen dient.

Ein einziges Mal kommt dieser Begriff in der Bibel im Zusammenhang mit Ehe und Sexualität vor: in der Erzählung von Tamar und ihrem Schwiegervater Juda. Ganz kurz möchte ich noch darauf eingehen: Tamar ist nacheinander mit den beiden ältesten Söhnen Judas verheiratet, aber beide sterben, bevor sie Kinder bekommt. Seinen dritten Sohn will Juda ihr nicht zum Mann geben, obwohl das Recht ihn dazu verpflichtet. Als Hure verkleidet, trifft sie ihren Schweigervater auf einer Geschäftsreise und wird von ihm schwanger. Als Juda von der Schwangerschaft erfährt, will er sie zunächst verurteilen, muss aber, als er den Zusammenhang erfährt, widerwillig zugeben: Sie ist gerechter als ich.

Deutlich wird: es geht nicht um Moral, sondern um den Schutz des Lebens: Tamars Recht auf Kinder wiegt mehr als formale Wohlanständigkeit. Das ist mit Gemeinschaftsgerechtigkeit gemeint: Schutz des Lebens, Respekt vor der Lebenssphäre der anderen, Rücksicht auf die Schwachen, Verzicht auf rigorosen Egoismus, Treue gegenüber den eigenen Verpflichtungen, Achtung vor den Bedürfnissen der Einzelnen, Ehrfurcht vor der Güte der Gebote Gottes. Damit schließt sich der Kreis: Zerstört das Leben nicht – die Überschrift der Gebote der zweiten Tafel weist den Weg zu ihrem Verstehen.

In diesem Sinne weist uns das Gebot „Du sollst nicht ehebrechen“ in die Selbstbegrenzung, vielleicht in das Lassen, den Verzicht. Vielleicht verletzten wir es. Aber wir dürfen uns um des Lebens willen die Verletzung nicht schön reden und für richtig erklären – sie muß uns als Verletzung bewußt bleiben. Vielleicht reiben wir uns an diesem Gebot. Wir dürfen nicht aufhören, uns daran zu reiben, um des Lebens willen, denn nur dann trägt uns die Verheißung: „Nicht wirst du eine Ehe brechen.“

Amen.


Ilka Werner