Spross der Zeder - Predigt zum 4. Advent
Predigt zu Ez 17, 22-24
Liebe Gemeinde,
wir haben den größten Baum! Kann man überall so lesen, und die Geschäftsleute haben es auch errechnen lassen, dass wegen dieses Baumes ein paar Zehntausend mehr Menschen zum Dortmunder Weihnachtsmarkt kommen. Wie man allerdings so ein Gebilde, das aus 1700 Fichten besteht, als einen Baum bezeichnen kann, geht mir nicht in den Sinn. Es ist sicherlich ein Meisterwerk der Techniker und der Sicherheitsexperten – aber ein Baum?
In New York am Rockefeller Center steht angeblich der berühmteste Weihnachtsbaum der Welt. Weil ja New York sowieso immer das Größte und Teuerste ist. 25 000 Swarovski-Kristalle hat er auf der Spitze. Kosten 1,5 Millionen. Der Baum in Frankfurt ist mit 33 Metern aber deutlich größer. Soll ein besonders schönes Stück aus den Tiroler Alpen sein – und soll auch da wie überall sonst Menschen anziehen und beeindrucken. In der Bibel gibt es keine Tannen oder Fichten. Aber es gibt auf dem Bergzug des Libanon die Zeder. Einen der eindrucksvollsten Bäume der Welt. Er kann 50 Meter hoch werden und 1000 Jahre alt.
König Salomo hat ihn schon vor 3000 Jahren zum Bau des ersten Tempels verwendet, so berühmt war sein Holz. Und weil auch viele andere Reiche und Mächtige nach ihm hinter diesem Holz her waren, war die Zeder schon bald Mangelware – und damit dann noch umso wertvoller. Was könnte ein großartigeres Bild für einen König sein als die Zeder?! Und so beginnt der Prophet Ezechiel beinahe wie ein Dichter:1
Ein großer Adler – Mit großen Flügeln, / mit langen Fittichen, herausgeputzt mit Stickerei – kam zum Libanon. Er nahm die Krone einer Zeder, den höchsten ihrer Triebe brach er ab. Er brachte ihn ins Land der Krämer, / in die Stadt der Händler, dort wurde er zu einem wuchernden Weinstock von niedrigem Wuchs.
Für die Hörer damals hatte der Adler einen Namen: Nebukadnezar, der mächtige König des babylonischen Großreiches. Er hatte tatsächlich den besten Spross Israels, die „oberen Zehntausend“, ins geschäftstüchtige Babylon verschleppt. Gute Leute konnte man immer brauchen, damit die „Stadt der Händler“ Profit machte. Das war zum Aushalten. Sicher wurde auch gemeckert: Das sei ja nur noch Gottes Weinstock als Zwergenwuchs! Das traf zu. So ein Adler bestimmte nun mal. Und Ezechiel setzt ein zweites Mal an:
Da war ein anderer großer Adler, mit großen Flügeln und vielen Federn, Und siehe! Dieser Weinstock / rankte seine Wurzeln um ihn Und ließ seine Zweige zu ihm hinwachsen (...), in ein gutes Feld, / bei reichlich fließendem Wasser.
Das hört sich für ein Land unter südlicher Sonne geradezu traumhaft an! Aber dann ergeht ein Gotteswort über das, was dieser Adler anstellt:
So spricht Gott der Herr: Bestimmt wird er seine Wurzeln ausreißen, und seine Frucht wird verrotten und verdorren müssen.
Warum das? Weil auch dieser Adler für die Zuhörer damals leicht zu erkennen war. Es war Zedekia, der König Israels. Ein sehr kleiner König, der aber gern groß wie ein Adler gewesen wäre und sich darum dem Pharao von Ägypten in die Arme warf2. Ja, das Wasser floss reichlich in Ägypten, ein Netz von Kanälen sorgte für gutes Wachstum. Nur stand leider der andere Adler, nämlich Babylon, vor der Tür – und würde Zedekias Pläne vom Aufschwung und Adlerflug schnell zerstören.
Ezechiel sagt zu all dem um Gottes willen NEIN. Dabei klingt das doch eigentlich gut: An der Seite der Großen habt ihr Ruhe und Sicherheit... Mag ja sein, dass man in der Krämerstadt Geschäfte macht, mag ja sein, dass man in und mit Ägypten satt wird – aber was ist mit dem, was Gott euch an Recht und Gerechtigkeit gegeben hat? fragt der Prophet. Was ist mit einem Leben in seinen Geboten? Und ehe die Leute einwenden: Was sollen wir denn machen? Wir sind doch klein und machtlos – da meldet sich Gott zu Wort. Auch in einem Bildwort (weil man ja Gott nicht so be-schreiben kann wie den König von Ägypten oder wie Sie und mich):
22 So spricht Gott der HERR: Aber ich werde nehmen von der hohen Krone einer Zeder und sie einsetzen, von ihrem höchsten Trieb werde ich einen zarten ausreißen und ich werde pflanzen – auf einem hohen und aufragenden Berg. 23 In den bergigen Höhen Israels werde ich in pflanzen Er wird Zweige tragen und Früchte hervorbringen / Und eine edle Zeder werden. Jeder Vogel jeden Flügels / Wird unter ihm wohnen; Im Schatten seiner Zweige werden sie wohnen. 24 Und alle Bäume auf dem Felde werden erkennen, dass ich, Gott, den hohen Baum erniedrigt habe, / den grünen Baum habe verdorren lassen und den verdorrten Baum habe blühen lassen. Ich, Gott, habe gesprochen und es getan.
Die Anderen, die Ezechiel die „Adler“ nennt, haben Israel von seinen Wurzeln losgerissen. Das hat wohl kaum einer als schön empfunden – aber die Leute mögen gesagt haben: „Man muss sich eben den Großen anpassen.“ Oder: „So geht es halt in der Welt zu!“ Der Glaube an Gottes Recht und Gerechtigkeit passt da nicht recht hinein. Bis Gott dann ICH sagt. Gegen all die mächtigen und starken Adler richtet er sein „Gegenspiel“ auf3. Er nimmt von den obersten Trieben der Zeder ein ganz zartes Reis. Da ist auch nicht der Hauch von Stärke dabei. Wer sich einmal die Spitzen etwa einer Tanne angesehen hat, weiß, dass das der allerschwächste Teil dieses Baumes ist. Aber wenn Gott die Sache seines Volkes in seine Hände nimmt – dann ist das keine Erniedrigung oder Unterwerfung, dann ist das nicht ein Heulen mit den Wölfen. Sondern dann geschieht damit für die Schwachen eine unglaubliche Erhöhung4.
Auf einem hohen Berg will Gott das zarte Reis einpflanzen. Dabei gibt es in dem Hochland Israels keinen besonders hohen Berg. Aber: Es ist Gottes Berg – und das macht ihn zum guten Ort. Es ist der Ort, an dem die Menschen nicht verkümmern, sondern Frucht tragen. Die klugen Leute ha-ben zurückgefragt: Was sollen das denn für Bäume sein – Zedern haben doch noch nie Früchte getragen? Es geht doch hier um Gottes wunderbares Handeln und nicht um eine Beschreibung der Wirklichkeit. Und dazu gibt es den wunderbaren jüdischen Kommentar, dass bei der Schöp-fung auch die unfruchtbaren Bäume Früchte getragen haben sollen5. Liebe Gemeinde, wir sind hier bei dem Wunder, dass Gott Neues und Unerwartetes schafft gegen jede Wahrscheinlichkeit. Das volkstümliche Adventslied „Maria durch ein Dornwald ging“ drückt dieses Wunder in ver-gleichbaren Worten aus: Da haben die Dornen Rosen getrag'n; / Als (Maria) das Kindlein durch den Wald getragen...6
Es wird eine Zeder voller Vögel sein – diese stehen hier für den Reichtum der Schöpfung. Bei Gott zählen dann nicht mehr die Adler, es zählt die Vielfalt der Vögel. Die alle ihr Lebensrecht haben, die sich entfalten sollen. Und gerade bei den Vögeln klingt das Spielerische durch – ihr Singen zum Lob Gottes. In den Worten des Propheten ist aus der stolzen Zeder so etwas wie ein „Gottesbaum“ geworden. Der trägt alle Zeichen von Gottes Herrlichkeit. Aber er trägt sie eben nicht wie der größte Baum, der aus 1700 kleinen Bäumen zusammengestoppelt ist. Und auch nicht wie der teuerste Baum. Dieser Baum ist Gott auf eine ganz eigene und besondere Weise teuer.
Ich komme damit zu Joern, unserem Taufkind. Wir wünschen ihm Gottes Segen – und meinen damit auch, dass es ihm gut geht, dass er all das, was Gott ihm auf den Weg gegeben hat, als ein eigener Mensch entfalten kann. Aber wir vertrauen ihm dem Gott an, der das Schwache erwählt hat. Ja, der selber in Schwachheit und Zerbrechlichkeit als Kind in der Krippe zu uns gekommen ist. Gott wird das zarte Reis in seine väterlichen Hände nehmen – und daraus wird eines Tages auf wunderbare Weise eine Zeder wachsen. Aber ob die groß oder klein sein wird, ob majestätisch oder eher schmächtig – das entscheiden nicht unsere Augen. Wenn wir bei der Taufe die Worte des Propheten Ezechiel hören, dann auch in dem Sinne: Wir erwarten ein Wachstum, das von anderer Qualität ist als das Wachstum in der Welt. Das Wachstum bei Gott wird „...ein so wunderbares sein, dass es über alles Natürliche weit hinausgeht.“7 Es ist nicht messbar. So, wie man ja auch die Liebe von Eltern nicht messen und nicht vergleichen kann. Dahinter steht die unverbrüchliche Zusage: Ich, der allmächtige Gott, beuge mich ganz tief zu Dir. So tief, dass Du meine Nähe und Zuneigung spürst.
Am Ende werden alle erkennen, dass es Gottes Kraft ist, die auf geheime Weise das Leben lenkt. Aber eben auf geheime Weise. Es wird nicht der größte Baum sein und nicht der teuerste. Es wird nicht die Macht aus dem Norden sein und nicht die Macht aus dem Süden. In unsere Sprache und unsere Welt müssten wir das so übersetzen: Es werden nicht die Dollars und die gewaltigen militärischen Kräfte der Amerikaner sein, die alles entscheiden. Es werden aber auch nicht die sein, die all die Datenmengen und Datenwege aus dem Internet beherrschen. Es gibt ja viele durchaus ernstzunehmende Leute, die sagen, wir stehen heute vor einem Umbruch. Wer das Internet beherrscht, der beherrscht die Welt. Oder aber er kann die Anderen so nachhaltig stören, dass selbst die größten Volkswirtschaften nicht mehr funktionieren. Ob das aber die ganz große Veränderung ist? Früher war einmal entscheidend, wer die Schwerindustrie mit den meisten und besten Rohstoffen hatte. Der konnte auch sein Militär so überlegen ausstatten, dass er die Weltmacht Nr. 1 war. Dann war es mal entscheidend, wer mit den meisten und tödlichsten Atomwaffen drohen konnte. Wir erinnern uns ja noch an die Schreckenszahlen, wie oft und wie schnell die eine Seite die andere ausradieren konnte. Jetzt ist es die Computer-Technologie – aber auch die funktioniert nur, wenn viel Geld dahintersteckt und wenn die Gesetze (also die Herrschenden) diese „Herren des Internet“ arbeiten lassen.
Darum, liebe Gemeinde: Das Gesicht der Macht ändert sich schon im Laufe der Zeiten. Es ändert sich sogar sehr. Und doch bleibt es immer die Macht der Großen, die der Prophet Ezechiel hier in dem Bild von den Bäumen „Adler“ nennt. Das heißt: In dem dritten Bild, da, wo Gott sagt „ICH aber...“ – da ist von all den Adlern, also all den Großen und Mächtigen, nicht mehr die Rede. Den Bäumen des Feldes werden die Augen dafür aufgehen, dass Gott es ist, der handelt. Wir wissen, dass in diesem Bildwort wir Menschen damit gemeint sind. Gott wirkt in seiner Kraft. Er ist zwar unsichtbar, aber er ist nicht schwach. ER ist auch nicht ein ferner, unergründlicher Gott des Schicksals, er ist der Gott, der auf heilsame Weise die Welt zum Leben führt.
Das ist nicht harmlos. Der hohe Baum soll erniedrigt werden. Wir hören die Botschaft. Und um-gekehrt sollen die niedrigen Bäume, also all die, die niedergedrückt werden, die sich nicht entfalten können – sie sollen erhöht werden. Den grünen Baum lässt er verdorren. Ich versuche zu übersetzen: Die Leute, die uns einreden, dies und jenes brauchen wir noch zum guten Leben, die Wachstumsraten, die die Wirtschaft ankurbeln sollen – und die uns oft nur leer zurücklassen. Ohne Sinn und Halt in unserem Leben. Und den verdorrten Baum habe ich blühen lassen, sagt Gott. Das, liebe Gemeinde, ist die Hoffnung im Advent: Nicht die Hoffnung auf viele Weihnachts-geschenke. Oder auf ein harmonisches Fest. Oder auf wunderbares Wetter in den Winterferien. All diese Dinge sind schön und gut – aber die Hoffnung von Weihnachten ist eine andere. Nämlich die Zusage: Hier kommt etwas zum Leben, was die Menschen längst abgeschrieben haben. Wo alle gesagt haben: „Das wird nichts mehr.“ Eben da schreibt Gott seine Geschichte. Er schreibt sie auf seine Weise und zugleich schreibt er sie mit uns Menschen. Mit uns, wenn wir uns von sei-nem Wort anstecken und bewegen lassen.
Zur Zeit Jesu lebte Johannes der Täufer. Er ist eigentlich die Gestalt des Advent. Weil er auf den hinweist, der nach ihm kommt und der größer ist als er. Und es hört sich fast an, als habe Johannes der Täufer die alten Prophetenworte des Ezechiel gehört und aufgenommen. „Bereitet den Weg des Herrn“ ruft Johannes. Weil Gott längst selber zum Heil der Welt eingegriffen hat. Was stark und mächtig war (was der Prophet die Welt der Adler nennt, bei all den Unterschieden, die es gibt) – das hat keinen Bestand. Aber das Andere, das soll durch Gottes Kraft zum Wachsen kommen: „Alle Täler sollen erhöht werden, und alle Berge und Hügel sollen erniedrigt werden; und was krumm ist, soll gerade werden, und was uneben ist, soll ebener Weg werden, und alle Menschen werden das Heil Gottes sehen.“8
Amen.
1 Die Übersetzung folgt weitgehend M. Greenberg.
2 Calvin z.St.
3 Zimmerli, BK, 388.
4 A.a.O.
5 GenR 5,9; ARN B 42
6 Es waren die Liederbücher der Jugendbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die dem Lied Popularität verschafften, andererseits auch seinen Wandel vom Wallfahrts- zum vermeintlich volkstümlichen Adventslied bewirkten. 1912 fand es Aufnahme in den Zupfgeigenhansl und 1914 in das von Klemens Neumann, dem Mitbegründer der katholischen Quickborn-Jugendbewegung, herausgegebene Liederbuch Der Spielmann.
7 Calvin, 279.
8 Lk 3,5.6
Albrecht Thiel
Wir möchten unsere Stimmen miteinklingen lassen in die alten Sätze von Erfahrung und Sehnsucht.