Die Predigt des Alten Testaments in der christlichen Gemeinde

Vortrag von Tobias Kriener

Zürcher Bibel von 1531 (Ausschnitt) © Wikicommons

Reformierte Tradition zeichnet sich dadurch aus, das Alte Testament mit allen seinen Versen hoch zu schätzen. So gingen im 20. Jahrhundert entscheidende Impulse für die christliche Predigt des Alten Testaments von reformierten Theologen aus.

1921 schrieb der Berliner Theologe Adolf von Harnack die berühmt-berüchtigten Sätze: "Das Alte Testament im 2. Jahrhundert zu verwerfen, war ein Fehler, den die große Kirche mit Recht abgelehnt hat; es im 16. Jahrhundert beizubehalten, war ein Schicksal, dem sich die Reformation nicht zu entziehen vermochte; es aber seit dem 19. Jahrhundert als kanonische Urkunde im Protestantismus noch zu konservieren, ist die Folge einer religiösen und kirchlichen Lähmung."[1]

1984 bat die Provinzialsynode der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg (Berlin-West) "die Pfarrer, verstärkt alttestamentliche Texte in Gottesdienst und Unterweisung heranzuziehen".[2]

Ich will in groben Linien die theologische Grundauffassung nachzeichnen, die in die harnacksche Forderung mündete; sodann soll der Neuansatz untersucht werden, der aus dem Kirchenkampf heraus in dieser Sache gemacht wurde; in einem dritten Teil werden die Lernprozesse in der beginnenden Umkehr und Erneuerung im Verhältnis von ChristInnen und JüdInnen skizziert, die im Hintergrund der Berliner Kehrtwende von 1984 stehen; und schließlich will ich Gesichtspunkte benennen, die sich mir im gegenwärtigen Stadium der theologischen Erkenntnis im Blick auf die Predigt alttestamentlicher Texte nahelegen.

I. Harnacks Forderung und ihr theologiegeschichtlicher Kontext

Der wissenschaftlichen Erforschung des Alten Testaments ist als Verdienst u.a. anzurechnen, je länger desto deutlicher erkannt und ausgesprochen zu haben, daß das Alte Testament kein christliches Buch ist, sondern "das Zeugnis der israelitischen bzw. jüdischen Religion",[3] das "Judenbuch" eben, wie es im Jargon des Antisemitimus mit einem vermeintlich abwertenden Begriff bezeichnet wurde. Denn für die historische Perspektive reden die sogenannten "messianischen Stellen" selbstverständlich nicht von Jesus, noch ergreift er irgendwo im Alten Testament selbst das Wort. Eben die Überzeugung aber, daß "Christus universae scripturae scopus est",[4] mehr noch: daß Christus selbst gegenwärtig sei,[5] war es gewesen, die bis dahin das Alte Testament als ersten Teil des christlichen Kanons qualifiziert hatte.

Bereits sehr bald nach Beginn der Epoche der historischen Kritik hatte Schleiermacher die systematischen Implikationen scharfsichtig erkannt, wenn er formulierte, "daß der jüdische Kodex keine normale Darstellung eigentümlich christlicher Glaubenssätze enthalte".[6] Deswegen "anerkennt der fromme Sinn des evangelischen Christen im ganzen einen großen Unterschied zwischen beiderlei heiligen Schriften ...; wie denn selbst die edelsten Psalmen doch immer etwas enthalten, was sich die christliche Frömmigkeit nicht als ihren reinsten Ausdruck aneignen kann, so daß man sich erst durch unbewußtes Zusetzen und Abnehmen selbst täuschen muß, wenn man meint, aus den Propheten und Psalmen eine christliche Lehre von Gott zusammensetzen zu können".[7]

Ebenso klar nahm er auch die Konsequenz bezüglich der Kanonfrage in den Blick: "Den jüdischen Kanon mit in den Kanon ziehen, heißt, das Christentum als Fortsetzung des Judentums ansehen", was "gegen die Idee des Kanon (streitet)".[8] Harnacks Forderung geht darüber nur insofern hinaus, als er nun auch in praxi "reinen Tisch" gemacht zu sehen wünscht.[9]

Von derselben Grundlage historischer Einsicht ausgehend, kommen E. Hirsch[10] und R. Bultmann[11] zu differenzierteren Lösungsvorschlägen. Trotz tiefgreifender Unterschiede, v.a. was beider Haltung zum Nationalsozialismus und zu den deutschen Christen angeht, gehören sie hier doch zusammen, insofern, als sie beide das Problem zu lösen versuchen, indem sie ein durch die Vermittlung Kierkegaards existentialphilosophisch gefaßtes Gesetz-Evangelium-Schema zum Instrument entwickeln, mit dessen Hilfe es ihnen möglich wird, das Alte Testament als quasi halbkanonisch beizubehalten.

Für Hirsch[12] ist das Alte Testament, da es jüdisches Dokument ist, der "Gegenstoß des Ärgernisses", der dem Christen "den notwendigen dialektischen Auftrieb" verleiht, vermittels dessen der Einzelne immer wieder selbst das Alte Testament durchs Neue aufzuheben hat. Für Bultmann[13] wird das Alte Testament dadurch, daß seine wesentlichen Ideen - Bund, Gottesherrschaft, Gottesvolk - scheitern, zum Zuchtmeister auf Christus hin. Eben die Beziehung der Ideen auf ein konkretes Volk - die "Jüdischkeit" des Alten Testaments also -ist es, die notwendig zum Scheitern der Ideen führt, denn diese sind innerweltlich nicht realisierbar, sondern werden erst in ihrer Eschatologisierung im Neuen Testament erfüllt.

In diesen Konzeptionen kommt dem Alten Testament die Rolle der Negativfolie zu, auf deren Hintergrund die Position des Neuen Testaments um so heller aufzustrahlen vermag. Evangelium kann das Alte Testament hier nicht sein, sondern bestenfalls die Kehrseite der Frohen Botschaft, bzw. die Vorbereitung auf sie im Sinne des usus elenchticus legis: erst, wenn alle Wege abgeschnitten sind, kann der zum Glauben Gekommene seinen Fuß auf den rechten Weg setzen.

In vulgarisierter Fassung prägen diese Konzepte bis heute weithin die Volksfrömmigkeit. Die oft zu hörenden Bedenken dem sog. "alttestamentarischen" Vergeltungsdenken gegenüber - Stichwort Talionsformel - demgegenüber das neutestamentliche Gebot der Feindesliebe die gewaltige qualitative Überlegenheit des Christentums erweise, stammen und speisen sich immer noch aus der schematischen Übertragung der Gesetz-Evangelium-Unterscheidung auf die beiden Testamente.
Aber auch die gänzliche Verwerfung des Alten Testaments - literarisch 50 Jahre nach der Sportpalastkundgebung wiederum propagiert von H. Wolff[14] - findet an der Basis der Gemeinden erschreckende Resonanz.

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[1] Adolf von Harnack, Marcion, 21927, 217; zit. nach H. D. Preuß, Das Alte Testament in christlicher Predigt, 1984, 70.

[2] Provinzialsynode der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg (Berlin-West), Beschluß "Orientierungspunkte zum Thema 'Christen und Juden'" vom 20. Mai 1984; in: Die Kirchen und das Judentum - Dokumente von 1945 bis 1985, hg. von R. Rendtorff u. H. H. Henrix, 21989, 615.

[3] F. Mildenberger, Grundwissen der Dogmatik - Ein Arbeitsbuch, 1982, 63; vgl. auch H.-J- Kraus, Geschichte der historisch-kritischen Erforschung des Alten Testaments, 31988, 385f.

[4] Martin Luther, WA 7; 97, 23; zit. nach H. Kremers, Die Wiederentdeckung des Alten Testaments in der evangelischen Kirche der Gegenwart; in: Juden und Christen lesen dieselbe Bibel, hg. von H. Kremers, 1977, 27.

[5] Wiederum für Luther vgl. F.-W. Marquardt, Die Gegenwart des Auferstandenen bei seinem Volk Israel - Ein dogmatisches Experiment, 1983, 60f.

[6] F. Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums, 31910,  115; zit. nach E. Busch, Juden und Christen im Schatten des Dritten Reiches -Ansätze einer Kritik des Antisemitismus in der Zeit der Bekennenden Kirche, ThExhNF Nr. 205, 1979, 29 Anm. 5.

[7] F. Schleiermacher, Glaubenslehre, § 132; zit. nach H.-J. Kraus, Das Alte Testament in der "Bekennenden Kirche", in: KuI 1/86, 43 Anm. 10.

[8] Schleiermacher, Kurze Darstellung, ebd.

[9] Vgl. Preuß, aaO, ebd.

[10] E. Hirsch, Das Alte Testament und die Predigt des Evangeliums, 1936.

[11] R. Bultmann, Die Bedeutung des Alten Testaments für den christlichen Glauben, in: GuV I, 1933, 313 - 336; ders., Weissagung und Erfüllung, in: GuV II, 1952, 162 - 186.

[12] Vgl. Preuß, aaO, 71ff.

[13] Vgl. ebd., 73ff.

[14] H. Wolff, Neuer Wein - Alte Schläuche: Das Identitätsproblem des Christen­tums im Lichte der Tiefenpsychologie, 1981. Vgl. z.B. 189: "Es ist für Christen absolut unmöglich, das Alte Testament weiterhin als ihre Heilige Schrift und Grundlage ihres Glaubens anzuerkennen ... weil das Gottesbild Jesu tatsächlich ... mit dem des Alten Testaments absolut unvereinbar ist."