Aktuelles
Aus den Landeskirchen >>>
Aus den Gemeinden >>>
Aus dem Reformierten Bund >>>
Kolumne >>>
from... - die reformierte App
Newsletter
Wir auf Facebook
Erlösung von der Sünde - Befreiung von Rom - Gewissensbefreiung
Beitrag zur Diskussion um die neutestamentliche Opfertheologie
Seit längerer Zeit wird in Theologenkreisen darüber diskutiert, wie bzw. ob die neutestamentliche Opfertheologie heute noch vermittel- und verstehbar sei. Diese Diskussion nähert sich der Basis, was zu begrüßen ist. Viele Christen haben mit der Opfertheologie ihre Verstehensschwierigkeiten, besonders dann, wenn sie am Wortlaut biblischer Überlieferung kleben und die Oberfläche nicht durchdringen - oder wenn sie die historischen Umstände außer Acht lassen, unter denen Jesus und Paulus wirkten und die neutestamentlichen Texte entstanden.
1. Historische Puzzleteile
Christen bekennen, dass Jesus von Nazareth der „Christus“ und „für uns“ gestorben sei. Dabei beziehen sie das „Uns“ wie selbstverständlich auf sich und fragen nicht nach der ursprünglichen Bedeutung des Titels „Christus“ (hebräisch: Messias). Nun finden sich in den Evangelien und bei Paulus einzelne Puzzleteile, die, zusammengefügt, ein ungewohntes Bild erahnen lassen (können).
Die politischen Verhältnisse in Palästina zurzeit Jesu bilden den Hintergrund für dieses Bild: Rom hat das Land besetzt, es herrscht Besatzungsrecht, und es gibt, wie immer in solchen Situationen, Widerstandsbewegungen unter den Besetzten. Diese Widerstandsbewegungen können an die alte prophetische Tradition der Messias-Erwartung anknüpfen: Ein politischer Führer, der sein Volk aus der Abhängigkeit von einer Großmacht führt und mit Recht und Gerechtigkeit regiert.
Das Johannes-Evangelium ist laut Selbstauskunft (Joh 20,31) geschrieben, „damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus sei“ – der Gesalbte. Gesalbt wurden Könige, politische Herrscher, und Israels Könige trugen den Titel „Sohn Gottes.“
Wenn Paulus (Rm 5,6 u. ö.) davon spricht, dass Jesus „für uns“ gestorben sei, meint er damit sich und seine Adressaten - und nicht heute lebende Menschen. Die aktuelle Bedeutung seines „Für uns“ ist jeweils neu zu definieren.
„Ihr bedenkt nicht, was es euch nützt, dass ein Mensch für das ganze Volk stirbt und nicht das ganze Volk“, sagt Kaiphas (Joh 11,50) in der Versammlung des Hohen Rats. Auf der Tagesordnung steht der Fall Jesus. Mitglieder des Gremiums befürchten, dass die römischen Besatzer ihre Waffen gegen die Ratsmitglieder und das ganze Volk richten könnten, wenn Jesus unbehelligt weiter macht. Das vom Hohen Rat befürchtete Vorgehen der Machthaber ist bis heute gängige Praxis gegenüber Anführern von Befreiungsbewegungen.
Dafür, dass die Jesus-Bewegung eine Befreiungsbewegung war, gibt es nicht nur in den Prozessberichten der Evangelien Hinweise. So schickt Jesus z. B. Jünger an eine genau bezeichnete Stelle, um einen dort bereitgestellten Esel abzuholen; eine (wohl abgesprochene) Parole dient den Jüngern zur Legitimation (Mk 11,2ff). Mit Hilfe des Esels wird dann Sacharja 9,9 inszeniert, und das Volk reagiert entsprechend mit dem liturgischen Psalm 118. Oder: Daran, dass ein Mann in einem Baum sitzt, erkennt Jesus vor Jericho seinen Quartiergeber Zachäus (Lk 19). Und für das letzte Passahmahl ist, als Jesus mit seinem Tross nach Jerusalem kommt, bereits ein Saal reserviert (Mk 14, 12ff); ein an einer Besonderheit erkennbarer Mann wird die vorausgeschickten Jünger hinführen. Dies und anderes mehr klingt nach Untergrund- und Guerilla-Praktiken.
Dass die Jünger um Ministerposten im bald erwarteten „Reich Gottes“ streiten (Mk 9,33 – 37), lässt die Vermutung zu, dass dieses dem „Reich der Welt“ bzw. „des Bösen“, dem römischen Reich also, folgen und die alte Gottesherrschaft wieder herstellen soll. Darauf verweist auch die Kreuzesinschrift: Jesus von Nazareth, König der Juden. So demonstrieren Besatzer ihre Macht. Die Besetzten aber erwarten das baldige Ende „der Welt“, des Imperium Romanum („orbis“).
Der Hohe Rat schätzt die Erfolgsaussichten eines Befreiungskampfes offenbar anders ein als die Jesus-Bewegung und setzt darauf, dass sie mit dem Tod ihres Anführers zusammenbrechen wird. Also opfern sie den Anführer und schützen ihr Volk vor einem Vergeltungsschlag der Römer. So kann Paulus später schreiben, Jesus sei „für uns“ gestorben – für das Leben der Juden nämlich. Sie hat sein Tod vor dem Tod durch die Römer bewahrt und erst recht die Anhänger der Jesusbewegung.
Paulus aber treibt (nach seinem Gesinnungswandel) die Sache Jesu weiter und wirbt auch von Rom unterjochte Griechen an. Er glaubt an einen Sieg über „die Welt“ - aus römischer Sicht und in damaligem Sprachgebrauch das Imperium Romanum. An dieses kann man, muss man denken, wenn Paulus vom Bösen redet; mit „Sünde“ kann - in alttestamentlicher Tradition - Teilnahme an heidnischen, in diesem Fall römischen Kulten gemeint sein, besonders am Kaiserkult. In seinen Briefen formuliert Paulus insgesamt eher vorsichtig und religiös verschleiert. „Dem Herrn“ zu leben oder ihm zu sterben (Rm 14,8), klingt dennoch nach Einschwören von Kämpfern auf den Kriegsherrn. Dem dienen auch seine Bezeichnungen wie „Gerechte“, „Erben“, „Freie“ etc. für die Jesusanhänger und seine Rede von Zielen wie „Freiheit“ und „Erlösung.“ Wo Paulus von „Erlösung von der Sünde“ schreibt, kann man „Befreiung von Rom“ lesen.
Das Imperium Romanum reagiert verständlicherweise sehr bald mit blutiger Verfolgung der sich ausbreitenden Jesusbewegung. Mit ihrem gesellschaftspolitischen Gegenentwurf zur imperialen Herrschaft Roms gefährdet sie dessen innere Ordnung und damit seine Weltmachtstellung. Das will Rom verhindern, und deshalb verfolgt es die Christen als Anhänger dessen, der sich zum König der Juden machen lassen und die Freiheit seines Volkes wieder herstellen wollte.
Seit Konstantin hat das Christentum seine Gefährlichkeit für das Imperium Romanum verloren – nicht aber für spätere totalitäre Systeme bis in die Gegenwart.
2. Seelsorgerliche Aspekte
Über solchen zeitlich bedingten befreiungspolitischen Impetus hinaus hat das „für uns“ in verallgemeinerter und theologischer Deutung allerdings auch eine seelsorgerliche Dimension. Im Alten Testament hat der „Sündenbock“ (3. Mose 16,20 ff) die Funktion, von Schuld und Schuldgefühlen zu befreien und die Voraussetzung für einen Neuanfang zu schaffen. Paulus und andere neutestamentliche Autoren nehmen die alttestamentliche Tradition eines gnädigen, die Missetaten nicht anrechnenden und vergebenden Gottes auf und übertragen das Sündenbock-Symbol auf Jesus von Nazareth („Lamm Gottes“). Dabei gehen sie weit über das jährlich zu wiederholende Sündenbock-Ritual hinaus, indem sie dem einmaligen Opfertod Jesu eine bleibende allgemeine Gütigkeit zuschreiben („ein für alle mal“, Rm 6,10).
Für die (jüdischen) Zeitgenossen des Paulus bedeutet das Gewissensbefreiung, wenn sie sich an römischen Kulten beteiligt haben bzw. beteiligen mussten. Die dadurch geschehene „Verunreinigung“ war abgewaschen, das gestörte Verhältnis zu ihrem Gott bereinigt.
Generell bedeutet das: Gelingt es einem mit Schuld oder Schuldgefühlen beladenen Menschen, diese „endgültig geschehene“ Sündenvergebung zu akzeptieren, sie zu glauben, wird dieser Glaube ihn von seinen Schuldgefühlen befreien und ihn an seiner Schuld nicht zerbrechen lassen, sondern ihm ein Leben mit und trotz seiner Schuld ermöglichen. Und da Menschsein immer auch Schuldigwerden bedeutet, ist die Sühnopfertheologie bzw. –theorie ein so hilfreiches Seelsorge-Modell beim Umgang mit Schuld und Schuldgefühlen. Die Behauptung, der Mensch als Sünder sei auf kirchliche Gnadenmittel angewiesen, ist mit der Sühnopfertheologie nicht vereinbar. Vielmehr genügt die alttestamentliche Vorstellung eines gnädigen, vergebungswilligen Gottes, dessen Gerechtigkeit darin besteht, dass er „Bund und Treue hält ewiglich.“
Es scheint an der Zeit, den Inhalt des archaischen und archetypischen Symbols des Sühnopfertodes Jesu sprachlich neu zu formulieren, um den Menschen des 21. Jahrhunderts seine befreiende, Leben ermöglichende Wirkung zugänglich zu machen. Das geschieht sicherlich in mancher Seelsorge, doch damit ist keine Breitenwirkung zu erzielen. Eine Kirche, die Mitglieder gewinnen, die missionieren will, wird sich dieser Aufgabe stellen müssen. Das kann aber nicht dadurch geschehen, dass historische Möglichkeiten verschwiegen werden, weil sie nicht in gängige Frömmigkeits-Vorstellungen und dogmatische Klischees passen.
Paul Kluge, Pfr. i.R., Leer