'Kinder des Lichts'

Predigt über Epheserbrief 5,8-14


© Wikicommons / Gerd Fahrenhorst

Von Jürgen Kaiser

Eine halbe Stunde. Eine halbe Stunde früher als geplant, das bringt alles durcheinander. Mit allem hat er gerechnet, nur damit nicht. Er muss sich was überlegen. Nach der Landung in Rastenburg hatte er sich bei Keitel gemeldet und erfahren, dass die Lagebesprechung mit dem Führer wegen des Besuchs von Mussolini eine halbe Stunde vorverlegt wurde, von 13 auf 12.30 Uhr. Stauffenberg soll als Stabschef beim Befehlshaber des Ersatzheeres in der Lagebaracke im inneren Sperrkreis über Pläne berichten, wie die Rote Armee an der Ostfront abgewehrt werden kann.

Eine halbe Stunde früher. Er muss sich was einfallen lassen. Er hat eine Idee. Er wolle sich noch schnell ein frisches Hemd anziehen, bevor er vor den Führer tritt, und bittet um einen Raum, um sich umziehen zu können. Man zeigt ihm eine Kammer. Aber er zieht sich nicht um. Er legt seine Aktentasche aufs Bett, öffnet sie, nimmt vorsichtig eine der beiden Bomben heraus und macht den Zünder scharf. Die Uhr läuft. Es bleibt keine Zeit mehr, auch noch die andere Bombe scharf zu machen. Er und sein Adjutant beschließen, die zweite Bombe im Zimmer zu lassen und nur die eine scharfgestellte in der Aktentasch mitzunehmen.

Mit fünfminütiger Verspätung kommt Stauffenberg in den übervollen Besprechungsraum. 24 Menschen drängen sich um einen großen Tisch. Stauffenberg kann die Aktentasche im Gedränge nicht direkt neben Hitler abstellen, nur am Tischende, immerhin in seiner Nähe. Dann sagt er, er müsse dringend telefonieren und verlässt den Raum. Irgendjemand schiebt dann die Tasche um die Ecke an die von Hitler abgewandte Seite des Tischsockels. Um 12.42 Uhr geht die Bombe hoch, vier Menschen sterben, 20 überleben. Der General der Nachrichtentruppe und Mitverschwörer Erich Fellgiebel lässt nach Berlin weiterleiten: „Es ist etwas Furchtbares geschehen: Der Führer lebt!“

Damit ist das Drama des 20. Juli 44 noch nicht zu Ende. Die Tragödie beginnt nun eigentlich erst. Obwohl die beiden Sperrkreise um die Wolfsschanze unmittelbar nach der Explosion geschlossen werden, gelingt es Stauffenberg, mit seinem Adjutanten die beiden Kreise zu passieren und nach Berlin zurück zu fliegen.

Mit dem Codewort „Walküre“ sollte in Berlin der sorgfältig geplante Umsturz ausgelöst werden. Das Attentat auf Hitler war nur der Beginn des Umsturzes. Die Wehrmacht soll alle wichtigen Dienststellen von Gestapo, Partei, SS und den Rundfunk besetzen. Doch wegen der merkwürdigen Nachricht von Fellgiebel aus der Wolfsschanze: „Es ist etwas Furchtbares geschehen: Der Führer lebt!“, zögert General Olbricht im Bendlerblock, „Walküre“ auszurufen. Stauffenberg aber meldet nach seiner Landung in Rangsdorf, Hitler sei tot. In Paris laufen die geplanten Maßnahmen zum Umsturz an, in Berlin dagegen zögern die eingeweihten Offiziere, die Maßnahmen umzusetzen. Die Lage ist zu verwirrend, zu widersprüchlich.

Fellgiebel meldet, Hitler lebe, Stauffenberg meldet, er sei tot. Während viele Stabsoffiziere gegen 17 Uhr Anweisungen von den Verschwörern erhalten, wird im Radio zur gleichen Zeit das Attentat gemeldet und dass Hitler es überlebt habe. Die Umsturzpläne brechen in sich zusammen. Um 22 Uhr wird Stauffenberg mit 4 weiteren Offizieren im Bendlerblock erschossen. In den Tagen darauf weitere 200 Menschen, auch Menschen, die mit dem Attentat nichts zu tun hatten. Also Unschuldige. Aber wer ist in dieser Sache schuldig und wer ist unschuldig?

***

Ich lese Worte aus dem Epheserbrief, den für heute vorgeschlagenen Bibeltext für die Predigt.

Lebt als Kinder des Lichts - das Licht bringt nichts als Güte, Gerechtigkeit und Wahrheit hervor -, indem ihr prüft, was dem Herrn gefällt, und beteiligt euch nicht an den fruchtlosen Werken der Finsternis, sondern deckt sie auf! Denn was durch sie im Verborgenen geschieht, auch nur auszusprechen, ist schon eine Schande; alles aber, was aufgedeckt wird, wird vom Licht durchleuchtet, 14ja, alles, was durchleuchtet wird, ist Licht. Darum heißt es: Wach auf, der du schläfst, und steh auf von den Toten, so wird Christus dein Licht sein.

***

Waren Stauffenberg und die vielen Mitverschwörer Kinder des Lichts? Waren ihre Vorhaben Taten der Gutwilligkeit, der Gerechtigkeit und er Wahrheit? Sie wollten jedenfalls die Werke der Finsternis aufdecken, ans Licht bringen, abstellen. Durch ein Attentat und einen Umsturz, die im Verborgenen geplant wurden. Waren sie Kinder des Lichts?

Jedenfalls werden sie gefeiert. In diesen Tagen wieder besonders, zum 80. Jahrestag, der gestern war. Sie werden gefeiert, obwohl ihre Pläne scheiterten. Sie werden gefeiert, obwohl sie vier Menschen direkt das Leben kosteten, indirekt über 200. Sie werden gefeiert, obwohl ihr Werk ja eigentlich gerade kein Werk des Lichts war, sondern im Verborgenen gemacht wurde, eine Verschwörung, die im streng Geheimen geplant und durchgeführt werden musste – das liegt im Wesen einer Verschwörung.

In einem aber ist sich die Nachwelt, sind wir uns einig: Wenn das Attentat und der Umsturz gelungen wären, hätten Millionen von Menschen überleben können, die in den Monaten bis zum Kriegende noch getötet wurden. Den mordenden Tyrannen zu ermorden, das ist moralisch gerechtfertigt, ja sogar geboten.

Es war ein Werk der Finsternis und doch ein Werk des Lichts. Es war ein Werk des Tötens und doch ein Werk des Lebens. Für uns heute, viele Jahrzehnte später ist klar: sie waren Kinder des Lichts. Was sie im Finsteren planten, waren gute Werke, Werke des Lichts, der Gerechtigkeit, der Wahrheit. Werke, die das Licht hervorbringt. Das Licht bringt nichts als Güte, Gerechtigkeit und Wahrheit hervor.

Was heute klar ist, war nicht immer klar. Wenn man mitten in den Kämpfen dieser Welt steht, wenn das Licht stets vom Schatten begrenzt wird und sich dunkle Wolken vor die Sonne schieben. Wenn wir aus dem Lichtschein geraten, dann ist die Güte nicht mehr selbstverständlich, das Gerechte nicht mehr klar und die Wahrheit hat plötzlich viele Gesichter. Darum prüft, rät der Epheserbrief. Prüft! Prüft, was Gott gefällt, rät der Epheserbrief.

Das ist mühsam, harte Arbeit des Gewissens. Ich möchte nicht wissen, was in Stauffenberg und seinen Freunden in den Tagen, Wochen und Monaten vor dem 20. Juli vorgegangen ist an inneren Kämpfen, Fragen, Zweifeln, Ermutigungen und Entmutigungen. Sie haben geprüft, sicher Tag und Nacht. Vor allem ihr Gewissen geprüft. Nicht nur die Abläufe und Details geprüft, sondern auch die Legitimität ihres Vorhabens geprüft.

Ob sie sich je zur Gewissheit durchringen konnten? Ob sie je die Prüfung mit einem festen und endgültigen: „Ja, was wir tun werden, ist gut!“, abschließen konnten? Wir wissen es nicht. Die Nachwelt ist zu einem eindeutigen Urteil gekommen. Ja, was sie taten, war gut. Sie waren Kinder des Lichts. Auch, wenn sie sonst vielleicht gar nicht unseren Maßstäben entsprochen haben. Manche waren hochnäsige Adlige, andere sehr konservative Typen, und vielleicht ging es ihnen gar nicht um Gerechtigkeit und Wahrheit und Güte, sondern um einen heute fragwürdigen Ehrbegriff. Sie waren dennoch Kinder des Lichts. Sie taten etwas Gutes und Notwendiges für andre, für viele.

Das Urteil der Nachwelt, das Urteil der Geschichte ist klar. Vor dem 20. Juli war es nicht so klar. Und unmittelbar nach dem 20. Juli war es ganz anders klar. Da waren sie nicht Kinder des Lichts, sondern Kinder der Finsternis. Hitler meldete sich noch in der Nacht im Radio zum Beweis, dass er lebt, und sprach von einer „ganz kleinen Clique (so wenige waren es gar nicht) von gewissenlosen (gerade das waren sie auch nicht) und verbrecherisch dummen Offizieren.“ Zunächst also waren nicht die Verschwörer die Kinder des Lichts, sondern Hitler wurde mehr denn je zur Lichtgestalt.

***

Für Hitler und die Nazis war der 20. Juli ein Beleg seiner Erwählung durch die Vorsehung. Hitler sprach nie von Gott. Er sprach von der Vorsehung. Das war sein Gott, eine Erwählung, aber sicher keine durch Christus. Hitler glaubte an irgendwelche schicksalsbestimmenden Himmelsmöchte, an die Sterne, nicht aber an den Gott der Juden und der Christen. Hitler hatte schon mehrere Attentate überlebt, auch einige weniger bekannte, weil sie schon gescheitert waren, bevor eine Bombe explodierte oder ein Schuss fiel. Jedes überlebe Attentat war ein Beweis mehr für seine Erwählung durch die Vorsehung. Jedes überlebte Attentat machte aus ihm eine noch strahlendere Lichtgestalt.

***

Gott sei bei ihm gewesen, sagte Trump vorgestern in seiner Rede am Ende des Nominierungsparteitags. Er sprach vom Attentat auf ihn, das er überlebte.

Trump ist nicht Hitler. Trump ist nur ein doofer supernarzistischer Politiker, kein mordender Tyrann. Niemand darf deshalb ein Attentat auf Trump gutheißen und bedauern, dass es scheiterte. Der 20-jährige Attentäter war kein Kind des Lichts – jedenfalls Stand heute. Die Geschichte mit Trump ist ja noch nicht zu Ende.

Was mich aber dazu bringt, diese beiden gescheiterten Attentate miteinander zu vergleichen, das auf Hitler vom 20. Juli 1944 und das auf Trump vom 13. Juli 2024, ist diese schreckliche Instrumentalisierung Gottes. Wie Hitler schlachtet auch Trump sein Überleben als Hinweis einer besonderen Erwählung aus. Auch er inszeniert sich als Lichtgestalt, als Erlöser, als Befreier, als gottgesandten Messias.

***
Das Urteil über den 20. Juli ist längst gesprochen. Es ist alles aufgedeckt worden. Was damals im Verborgenen geschah, ist ans Licht gekommen und als Werk des Lichts erkannt worden und was damals im Licht stand, ist als Werk der Finsternis entlarvt worden. Das Urteil über Donald Trump ist noch nicht gesprochen. Über ihn streitet ganz Amerika, die ganze Welt. Wir werden sehen.

***

Wir sind Kinder des Lichts. Aber das erkennen wir nicht daran, dass wir Attentate überlebt haben oder Autounfälle oder einen Herzinfarkt. Wir erkennen es auch nicht daran, dass wir Geld haben oder Erfolg im Beruf, dass wir glücklich verheiratet sind und artige Kinder haben. Wir sind Kinder des Lichts. Auch die sind es, die keine Kinder haben, deren Ehe gescheitert ist, die kein Geld haben und keinen Erfolg. Denn nicht wir sind das Licht. Nicht unsere Taten, nicht unsere Worte sind das Licht. Unser Licht ist Christus. Wir leuchten nicht aus uns, wir leuchten durch ihn.
Unsere Erwählung ist nicht sichtbar. Er gibt dafür keinen Beweis und keine Plausibilität. Es gibt nur den Glauben an Christus. Denn in ihm sind wir erwählt, und nur in ihm und durch ihn.

Daran erinnert der Beginn des Epheserbriefs und damit höre ich für heute auf:

Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns gesegnet hat mit allem geistlichen Segen im Himmel durch Christus.
Denn in ihm hat er uns erwählt, ehe der Welt Grund gelegt war, dass wir heilig und untadelig vor ihm sein sollten in der Liebe; er hat uns dazu vorherbestimmt, seine Kinder zu sein durch Jesus Christus nach dem Wohlgefallen seines Willens, zum Lob seiner herrlichen Gnade, mit der er uns begnadet hat in dem Geliebten. (Eph 1,3-6)

Amen.


Jürgen Kaiser