„Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.“
Liebe Gemeinde,
wie tröstet eigentlich eine Mutter? So habe ich mich gefragt, als ich unseren kurzen Predigttext las. Gewisslich ganz unterschiedlich und individuell. Denn auch Mütter sind Individuen. Und wenn ich Sie, liebe Gemeinde, befragen würde, wie Sie jeweils von ihrer Mutter getröstet wurden, so würden Sie mir sicherlich ganz unterschiedliche Erfahrungen und Erlebnisse schildern. Mag sein, dass die Mutter dem einen in liebevoller Zuwendung sanft über das Haar strich und so tröstete. Mag sein, dass sie die andere fest in den Arm nahm und so an sich drückte, dass sie sich geborgen fühlte. Mag sein, dass die Mutter die Tränen trocknete oder pustete, wenn wir uns weh getan hatten. Mag sein, dass die eigene Mutter gleich zwei, drei oder sogar mehrere dieser Trostgesten kombinierte. Wie dem auch sei – bei aller Unterschiedlichkeit der jeweils individuellen Trosterfahrung werden wir doch eines festhalten dürfen: Mütter trösten tröstlich. Und das genau ist die Antwort auf die Frage, wie Mütter trösten: Mutter trösten tröstlich.
Hier liegt die Antwort auf unsere Frage. Unser Text setzt diese Erfahrung einer gelungenen Trosthandlung voraus, wie immer wir sie uns auch im Einzelnen vorstellen mögen. Hier lässt uns der Text Raum für viele gute Erfahrungen, an die wir uns erinnern und die wir auf Gott beziehen dürfen – immer unter der Voraussetzung: Gottes Trost gelingt, Gottes Trost kommt an. Gott tröstet tatsächlich. Gott will nicht nur trösten, sondern er tröstet, ganz real, hier und heute. Das heißt: Gott vertröstet nicht – er verschiebt den Trost nicht auf eine spätere, unabsehbare Zeit, in der es sich erst erweisen muss, ob sein Trost wirklich tröstet. Nein.
Gottes Trost trifft hier und heute – auch in schwerer Zeit, auch und besonders hier und heute, wo wir den Trost so nötig haben: „Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachten, so bist du doch, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Teil“. So sagt der Psalmist (Ps 73,26) und bringt damit seine Trosterfahrung auf den Punkt. Oder bei Jesaja heißt es: „Siehe, um Trost war mir sehr bange. Doch Du aber hast meine Seele herzlich angenommen, dass sie nicht verdürbe“ (Jes 38,17). Auch hier spricht sich die Erfahrung aus: Gott tröstet, wie einen eine Mutter tröstet. Gott tröstest tröstlich – davon berichtet die Bibel immer wieder. Bei Gott sind wir Menschen bei Trost – davon zeugt dieses Buch bis auf den heutigen Tag – auch und gerade bis in dunkelste Stunden hinein.
Ich habe mir aber noch eine andere Frage gestellt. Nicht nur die Frage, wie eine Mutter tröstet, sondern auch die Frage, ob eigentlich nur Mütter trösten. Vielleicht hat es schlicht mit Biologie zu tun, dass speziell Mütter trösten. Unser Losungstext spielt genau darauf an, wie der Blick auf den Zusammenhang zeigt, in dem er steht: „Freut euch mit Jerusalem und seid fröhlich über die Stadt, alle, die ihr sie liebhabt! Freuet euch mit ihr, alle, die ihr über sie traurig gewesen seid. Denn nun dürft ihr saugen und euch satt trinken an den Brüsten ihres Trostes; denn nun dürft ihr reichlich trinken und euch erfreuen an dem Reichtum ihrer Mutterbrust. Denn so spricht der Herr: […] Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet, ja, ihr sollt an Jerusalem getröstet werden“ (Jes 66,11–13). Trost – so sagt dieser Text in Jes 66 – ist die „Muttermilch Gottes. Ein solcher Trost ernährt uns, stillt uns, macht vergnügt, lässt uns geborgen sei, macht – wie man so sagt – groß und stark.“1
Diese Rede vom Trost als der Muttermilch Gottes, die wir bereits als Neugeborene brauchen, ist sehr anschaulich. Sie hilft uns zu verstehen, wer und was wir als Menschen sind: „Der Mensch ist auf Trost hin erschaffen […]. Sein Bedürfnis nach Trost weist über ihn selbst hinaus auf den hin, der ihn erdacht. Ein Mensch, der grundsätzlich ohne Trost leben könnte, wäre nicht liebenswürdig und wohl auch nicht liebesfähig. Das Schreien des Neugeborenen […] macht ein Geheimnis hörbar […], ein Geheimnis, das vielen Ohren […] verborgen bleibt: Seine Trostbedürftigkeit meint etwas außer ihm selbst, ist auf etwas Frohmachendes und Veränderndes angelegt, auf eine Botschaft, die ihm begegnet, wie die Mutter dem Säugling […]. Der Mensch ist für das Evangelium geschaffen.“2
Bei diesem Bild nun, das Jesaja gebraucht, also dem Bild von dem aus den Mutterbrüsten Gottes fließenden Trost, ist natürlich an eine biologische Mutterschaft gedacht.3 Aber gewiss dürfen wir hier auch an eine soziale Mutterschaft Gottes denken. Geschlecht meint ja, das lehrt uns die Gender-Forschung, immer auch eine soziale Rollenzuschreibung. Und in diesem Sinne können auch (im biologischen Sinne verstandene) Väter bzw. Männer mütterlich handeln. Mutterschaft ist nicht nur ein menschliches Gottesbild, sondern ein menschliches Menschenbild,4 das für Mütter und Väter, ja Frauen und Männer und Menschen überhaupt, gilt. Beim mütterlichen Trost musste ich an einen Mann denken, eine literarische Figur, den Lehrer Justus aus meinem Lieblingsbuch, dem „Fliegenden Klassenzimmer“ von Erich Kästner.
„Dort erhält der Tertianer Martin Thaler zwei Tage vor Weihnachten von seinen mittellosen Eltern die Nachricht, dass er an Weihnachten nicht aus dem Internat nach Hause kommen könne, weil den Eltern das dafür notwendige Fahrgeld fehle. Martin versucht, so tapfer und tränenlos, wie das die Mutter per Brief von ihm erbeten hat, diese Enttäuschung zu verarbeiten, aber von seinem sensiblen Lehrer, genannt Justus, kann er seinen Kummer schließlich nicht mehr verbergen.“5
Just „beugte sich zu dem Jungen hinab und fragte ihn sehr leise, als dürften es nicht einmal die Bäume hören: ‚Hast du etwa kein Fahrgeld?‘ Da war es mit Martins tapferer Haltung endgültig vorbei. Er nickte. Dann legte er den Kopf auf die schneebedeckte Brüstung der Kegelbahn und weinte zum Gotterbarmen. Der Kummer packte den Jungen im Genick und schüttelte und rüttelte ihn hin und her. Der Justus stand erschrocken daneben. Er wartete eine Weile. Er wusste, dass man mit dem Trösten nicht zu früh anfangen darf. Dann nahm er sein Taschentusch, zog den Jungen zu sicher heran und wischte ihm das Gesicht ab. ‚Na, na‘, sagte er. ‚Na, na.‘ Er war selber ein bisschen mitgenommen. Er musste ein paarmal energisch husten.“6
„Justus war nicht nur ein sensibler, sondern auch ein kluger Lehrer. Er wusste, dass man mit dem Trösten nicht zu früh beginnen darf. Warum? Weil der Trost, der früh kommt, noch keinen freien Platz oder leeren Raum zum Ankommen in der Seele finden kann; denn zunächst muss die Traurigkeit in ihrer ganzen Schwere Raum finden und durch Tränen zum Ausdruck kommen dürfen. Und der Trost, der da schon hinein wollte, wäre vertan, verspielt, verbraucht.“7
Ja, liebe Gemeinde, dem Lehrer Justus gelingt es hier zu trösten, wie Gott tröstet – eben tröstlich. Eben so, dass der Trost ankommt, eben so, dass er zur rechten Zeit den Trostbedürftigen trifft. Möge Ihnen, liebe Gemeinde, solcher Trost geschenkt werden, der Trost dessen, der uns tröstet wie eine Mutter tröstet.
Amen
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1 Magdalene L. Frettlöh, Worte sind Lebensmittel. Kirchlich-theologische Alltagskost, Biblische Erkundungen 8, Wittingen 2007, 131.
2 Rudolf Bohren, Trost. Predigten, 2. Aufl., Neukirchen-Vluyn 1983, 11.
3 Zum Bild von Gott als Mutter im Alten Testament vgl. Walter Brueggemann, Theology of the Old Testament. Testimony, Dispute, Advocacy, Minneapolis 1997, 258f. Vgl. auch einführend zu den biblischen Gottesbildern: Bernd Janowski, Ein Gott, der straft und tötet? Zwölf Fragen zum Gottesbild des Alten Testaments, 4. Aufl., Neukirchen-Vluyn 2020, 325–327.
4 Vgl. Frettlöh, ebd.
5 Wilfried Härle, Ethik, 2. Aufl., Berlin / Boston 2018, 415.
6 Erich Kästner, Das fliegende Klassenzimmer. Ein Roman für Kinder, 168. Aufl., Hamburg / Zürich 2011, 154.
7 Härle, ebd.