Schuld und Sühne, Sünde und Gnade

Predigt zu Römer 3, 21-26


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Das Richtige tun, ohne zu genau zu wissen, was das Richtige ist - geht das? Doch. Das Vertrauen auf die Gerechtigkeit Gottes macht uns zu anderen Menschen. Eine Predigt von Georg Rieger.

21 Jetzt aber ist unabhängig vom Gesetz die Gerechtigkeit Gottes erschienen - bezeugt durch das Gesetz und die Propheten -, 22 die Gerechtigkeit Gottes, die durch den Glauben an Jesus Christus für alle da ist, die glauben. Denn da ist kein Unterschied: 23 Alle haben ja gesündigt und die Herrlichkeit Gottes verspielt. 24 Gerecht gemacht werden sie ohne Verdienst aus seiner Gnade durch die Erlösung, die in Christus Jesus ist. 25 Ihn hat Gott dazu bestellt, Sühne zu schaffen - die durch den Glauben wirksam wird - durch die Hingabe seines Lebens. Darin erweist er seine Gerechtigkeit, dass er auf diese Weise die früheren Verfehlungen vergibt, 26 die Gott ertragen hat in seiner Langmut, ja, er zeigt seine Gerechtigkeit jetzt, in dieser Zeit: Er ist gerecht und macht gerecht den, der aus dem Glauben an Jesus lebt.

Liebe Gemeinde,

dieser Abschnitt aus dem Römerbrief wird von vielen Theologinnen und Theologen als die Mitte des Evangeliums angesehen oder auch als Urtext der Reformation und der Rechtfertigungslehre. Das flößt einem Respekt ein – zu Recht. Aber es geht doch anderseits oder gerade deshalb um eine Angelegenheit, die uns alle und immer betrifft: Es geht um Schuld und Sühne, um Sünde und Gnade.

Das sind nun nicht alltägliche Begriffe. Am ehesten noch die „Schuld“, wobei auch die heute oft mit „Verantwortung“ umschrieben wird. Das Thema aber, so meine ich, ist nicht nur ein alltägliches, sondern geradezu ein unser Leben dominierendes. Denn eigentlich geht es andauernd darum, wer für was die Schuld trägt. Natürlich in erster Linie, wenn Verbrechen begangen werden, dann müssen die Schuldigen gefasst und verurteilt werden. Aber auch wenn ein Unglück passiert, wird als erstes der Schuldige gesucht: der den Berglauf nicht abgesagt oder die Zugachsen nicht oft genug kontrolliert hat. Wie es den Opfern geht, interessiert viel weniger, als dass die Verantwortlichen an den Pranger gestellt werden können.

Wenn in der Politik Fehler passieren, ist die heißeste Frage, ob es der Minister schafft, die Schuld einem Untergebenen in die Schuhe zu schieben oder ob er selbst gehen muss. Was wirklich los war, interessiert viel weniger als dass Köpfe rollen. Auch in unseren persönlichen Beziehungen geraten wir manchmal in solches Fahrwasser. Bis hinein in Familien gibt es das, dass man sich gegenseitig alles aufrechnet, die Worte des anderen auf die Goldwaage legt und dann in gleichem Maß dagegenhält. Und so schaukeln sich dann Konflikte hoch, zerstören Beziehungen und machen Menschen zu einsamen Kämpfern.

Es scheint wie ein Muster zu sein, das uns mit auf die Welt gegeben ist. Wir wünschen uns in unserem ganzen Leben am meisten ausgleichende Gerechtigkeit. Jeder soll das bekommen, was er verdient. Wenn das so ist, gefällt es uns, wenn nicht, beschweren wir uns. Wer weiß schon, um was für Schmiergeldzahlungen es im Siemens-Skandal geht, wer die Gelder erhalten hat und was damit geschehen ist? Aber dass Herr von Pierer und Herr Kleinfeld verantwortlich sind und zur Kasse gebeten werden, dass wissen wir alle und es verschafft uns Genugtuung. Manchmal schon fast krampfhaft und ohne genau hinzusehen, was eigentlich geschehen ist, fordern wir Strafe.

Als traurige Paradebeispiele dafür, wohin solcher Bestrafungseifer führen kann, werden gerne Todesurteile in den Vereinigten Staaten angeführt. In einigen Fällen konnten diese nicht mehr rechtzeitig rückgängig gemacht werden, als die Unschuld der Verurteilten bewiesen war. Aber selbst da, wo es nicht um so dramatische Fehlurteile geht, stellt sich doch die Frage: Warum ist es uns Menschen so wichtig, dass Schuld gesühnt wird? Was haben wir davon, wenn Andere zur Rechenschaft gezogen werden?

Ich glaube, es ist am deutlichsten mit einer  Art Gleichgewicht zu beschreiben, das wir hergestellt haben wollen. Wenn ein Verbrechen begangen wird oder ein Unglück geschieht, dann entsteht ein Schaden, der ausgeglichen werden muss. Das sehen die Betroffen so und das sehen wir auch als Zuschauer so und fordern also Gerechtigkeit. Wenn es um materiellen Schaden geht, ist es ja dann auch relativ einfach, gleichwertigen Ausgleich zu fordern. Schwieriger wird es, wenn es um Menschen geht, die körperlich oder seelisch Schaden erlitten haben. Was ist ein angemessener Ausgleich für erlittenes Unrecht? Kann man Leiden überhaupt wieder gut machen?

Die Erfahrung zeigt ja, dass es bei einem Ausgleich meistens nicht bleibt, sondern dass sich Konflikte hochschaukeln und immer heftigere Reaktionen auslösen. Insofern ist das Prinzip „Auge um Auge, Zahn um Zahm“ schon ein sehr wertvolles Korrektiv, das alle Beteiligten dazu ermahnt, wirklich einen Ausgleich herzustellen und die Angelegenheit nicht eskalieren zu lassen. Dieses Prinzip des gerechten Ausgleichs ist auch das einzige, was vernünftig ist. Ein Schaden, der entstanden ist, muss wieder ausgeglichen werden.

Wenn wir mal ehrlich sind, ziehen wir Menschen uns immer wieder gerne auf dieses Prinzip zurück: den gerechten Ersatz des Schadens und die Sühne der Schuld als ausgleichende Gerechtigkeit. Das ist das, liebe Gemeinde, was Paulus als „das Gesetz“ bezeichnet. Die zehn Gebote sind ja nur der Vorspann zu einem umfangreichen Regelwerk, das den alltäglichen Umgang regelt und auch Strafen vorsieht – eben angemessene Strafen. Die einzelnen Bestimmungen dieses Gesetzes sind sicher auch schon zur Zeit des Paulus neu interpretiert und an die Zeit angepasst worden. Aber das dahinter stehende Prinzip war nach wie vor gültig: Auch nach Gottes Wille sollen Sünden geahndet und für Schuld gebüßt werden.

Holzschnittartig wird nun oft theologisch so argumentiert, dass mit Jesus die Liebe in die Welt gekommen ist und von nun an nicht mehr Rache, sondern Vergebung zum obersten Prinzip erkoren wurde. Natürlich nur von den Christen, die Juden seien ja in ihrem alten System stecken geblieben. So einfach ist es aber eben nicht! Und so einfach macht es sich auch Paulus nicht. Er geht sehr behutsam vor, spinnt die Fäden vom Anfang der Geschichte Israels bis zu seiner Zeit und – wenn man so will – bis zu uns. Er bringt etwas Neues ins Spiel und zeigt doch gleichzeitig, dass es alles andere als neu ist:

Paulus nennt die „Gerechtigkeit Gottes“, was natürlich auch kein neuer Begriff ist. Aber er sagt: Die Gerechtigkeit Gottes ist „unabhängig vom Gesetz“ erschienen. Sie ist also offensichtlich nicht gleichzusetzen mit dem Gesetz, sondern ist etwas Eigenes. Die Gerechtigkeit ist also nicht das Gesetz. Das bedeutet im Umkehrschluss: Sich an das Gesetz zu halten, macht einen nicht gerecht. Auch das, liebe Gemeinde ist nichts Neues: In den Klagen der Psalmen, bei Hiob ganz deutlich und auch bei den Propheten wird das immer wieder thematisiert, dass Gottes Gerechtigkeit sich offensichtlich nicht in Gesetzestexte fassen lässt.

Also ist auch ausgleichende Gerechtigkeit nicht automatisch Gottes Gerechtigkeit. Und Sühne, die wir Menschen uns gegenseitig verordnen, macht Unrecht nicht ungeschehen. Gottes Gerechtigkeit ist etwas ganz Anderes – etwas Größeres. Aber keineswegs etwas Neues. Schon im Gesetz selber – so Paulus – ist sie bezeugt und durch die Propheten auch. Das heißt, die Gerechtigkeit Gottes ist schon immer da und konnte auch wahrgenommen werden. Nun aber – nachdem Jesus Christus gekreuzigt wurde und auferstanden ist – soll eines klar sein: Gott hat mit dem Gedanken aufgeräumt, dass Unrecht gesühnt werden muss, um seinen – Gottes – Zorn zu besänftigen. Und umgekehrt kann man sich sein Wohlwollen nicht durch gute Werke erkaufen.

Gottes Gerechtigkeit ist und bleibt etwas, das wir nicht durchschauen oder berechnen, sondern an das wir nur glauben können. Ob es sie für uns gibt oder nicht, ist eine Frage unseres Vertrauens. Wir sollen Gott zutrauen, dass er für Gerechtigkeit sorgt und können unsere Rachegefühle ruhig stecken lassen. Liebe Gemeinde, das unterscheidet  das Christentum von mancher anderen Religion, dass es an diesem Punkt – an der Frage, was gut und was böse ist – auf den Glauben setzt und auf klare Maßstäbe verzichtet. Nicht dass das im Christentum immer so durchgehalten würde. Es gibt ja immer und überall Vertreter unserer Religion, die vorgeben, genau zu wissen, was Gott will und was nicht.

Genau daran, meine ich aber, entscheidet sich, ob wir es mit Gott ernst meinen: Ob wir seiner Gerechtigkeit trauen ohne sie zu kennen und ob wir mit dieser Freiheit umgehen können, ohne feste Regeln ein verantwortliches Leben zu führen. Ohne feste Regeln, damit meine ich, dass wir uns nicht auf die Buchstaben irgendeines Gesetzes berufen können und damit glauben, wir seien auf der sicheren Seite. Ohne feste Regeln heißt nicht, dass wir tun und lassen können, was wir wollen. Paulus lässt das Gesetz, obwohl er es der Gerechtigkeit Gottes gegenüber zurück stellt, voll in Geltung. Ja, er sagt, dass es die Gerechtigkeit Gottes bezeugt. Damit meint er, dass Gottes Wille in diesen Bestimmungen durchaus Ausdruck findet – so wie in vielen anderen Dingen, die Gott für sein Volk Israel getan hat, ja auch.

Wir sollen jedoch mit uns und mit anderen nicht ganz so streng sein. Niemand kann das Gesetz bis ins letzte Detail halten – auch nicht, wenn man nur die zehn Gebote voraussetzt. Am wenigsten das erste Gebot, dass wir Gott ehren sollen. Immer wieder ehren wir eben nicht ihn, sondern uns selbst, nehmen uns wichtiger als den Rest der Welt und urteilen an seiner Stelle über andere. Wir könnten auch ein bisschen vorsichtiger damit sein, ausgleichende Gerechtigkeit einzufordern. Denn was wir fordern, ist nur ausgleichende Gerechtigkeit nach menschlichem Maß. Es dient unserer Genugtuung aber nicht der Gerechtigkeit Gottes.

Für uns ist aber schon gesorgt – auch für unser Gerechtigkeitsgefühl: Es wird immer wieder hitzig über das Sühnopfer Jesu Christi debattiert. Umstritten ist es in dem Sinn, dass Jesus stellvertretend sterben musste, um den Zorn Gottes zu besänftigen. Ich glaube es ein bisschen anders: Jesus Christus musste sterben, um den Zorn von uns Menschen, unser Bedürfnis nach Vergeltung und Ausgleich zu besänftigen. Jesus ist ein Opfer von uns Menschen geworden und nicht ein Opfer Gottes. Ein unschuldiges Opfer. Aber ein Opfer, das uns die Augen dafür öffnen soll, dass wir nicht immer wieder Sühne fordern müssen und auch uns selber nicht aufopfern brauchen, weil Jesus sich geopfert hat – stellvertretend für alle weiteren „Sühnopfer“, ein für alle mal.

Wichtig ist auch noch, dass es sich hierbei nicht um eine Vertröstung auf den jüngsten Tag handelt. Paulus betont ausdrücklich, dass Gott seine Gerechtigkeit „jetzt, in dieser Zeit“ zeigt. Wenn wir ihr vertrauen, verändert das unser Leben jetzt und hier. Liebe Gemeinde, das Vertrauen auf die Gerechtigkeit Gottes macht uns nicht frei von dem Wunsch nach Vergeltung. Und in unserer Gesellschaft ist es auch nötig, dass Gesetze das Zusammenleben regeln; Gesetze, die auch Strafen beinhalten, materiellen Ausgleich sicherstellen und ihre Bürger schützen. (Nach reformierter Theologie sind solche staatlichen Ordnungen sogar ausdrücklich Teil des göttlichen Plans mit uns Menschen.)

Das Vertrauen auf die Gerechtigkeit Gottes macht uns aber gelassener in aufgeregten Situationen, aufmerksamer für die Zusammenhänge einer Angelegenheit, gnädiger mit unseren Mitmenschen – auch wenn diese Schuld auf sich geladen haben. Und wir dürfen auch gnädiger mit uns selber umgehen. Denn auch wir selbst müssen nicht nach irgendwelchen Gesetzmäßigkeiten funktionieren. Wir dürfen uns aus Zwängen befreien, die uns erstrebenswerte Statussymbole vorgaukeln. Wir können uns von Schuldgefühlen lösen, die uns das Leben schwer machen – weil für uns und die anderen gesorgt ist. Weil es eine Gerechtigkeit gibt, die anders, höher ist als unsere Vernunft.

Amen.


Georg Rieger