Gottes Fürsorge in Krisenzeiten

Predigt über Gen 16,13


Darstellung Hagars von Giuseppe Nicola Nasini (zwischen 1657 und 1736) © Wikimedia

Von Dennis Schönberger

Gen 16
1Abrams Frau Sarai hatte keine Kinder bekommen. Sie hatte eine ägyptische Magd, die hieß Hagar. 2Sarai sagte zu Abram: »Der Herr hat mir Kinder verweigert. Geh doch zu meiner Magd! Vielleicht kann ich durch sie ein Kind bekommen.« Abram hörte auf Sarai. 3So gab Sarai ihrem Mann Abram ihre ägyptische Magd Hagar zur Nebenfrau. Abram wohnte damals schon zehn Jahre im Land Kanaan. 4Er schlief mit Hagar, und sie wurde schwanger. Als sie sah, dass sie schwanger war, sah sie auf ihre Herrin herab. 5Da sagte Sarai zu Abram: »Mir geschieht Unrecht, und du bist schuld. Ich war es doch, die dir meine Magd gegeben hat. Kaum ist sie schwanger, sieht sie auf mich herab. Der Herr soll zwischen dir und mir entscheiden!«6 Abram antwortete Sarai: »Sie ist deine Magd und in deiner Hand. Mach mit ihr, was du für richtig hältst.« Daraufhin behandelte Sarai ihre Magd so schlecht, dass diese ihr davonlief.
7Ein Engel des Herrn fand Hagar an einer Wasserquelle in der Wüste. Sie war am Brunnen auf dem Weg nach Schur. 8Der Engel fragte: »Hagar, du Magd Sarais, wo kommst du her und wo gehst du hin?« Sie antwortete: »Ich bin auf der Flucht vor meiner Herrin Sarai.« 9Da sagte der Engel des Herrn zu ihr: »Kehre zu deiner Herrin zurück und ordne dich ihr unter!« 10Weiter sagte der Engel des Herrn zu ihr: »Ich werde deine Nachkommen so zahlreich machen, dass man sie nicht zählen kann.« 11Der Engel des Herrn fügte hinzu: »Du bist schwanger und wirst einen Sohn zur Welt bringen. Den sollst du Ismael, ›Gott hat gehört‹, nennen. Denn der Herr hat dich gehört, als du ihm deine Not geklagt hast. 12Dein Sohn wird heimatlos sein wie ein Wildesel. Er wird mit allen im Streit liegen und getrennt von seinen Brüdern wohnen.« 13Hagar gab dem Herrn, der mit ihr geredet hatte, den Namen El-Roi, das heißt: Gott sieht nach mir. Denn sie hatte gesagt: »Hier habe ich den gesehen, der nach mir sieht.« 14Darum nannte man den Brunnen Beer-Lahai-Roi, das heißt: Brunnen des Lebendigen, der nach mir sieht. Er liegt zwischen Kadesch und Bered.
15Hagar brachte Abrams Sohn zur Welt. Er nannte den Sohn, den Hagar geboren hatte, Ismael. 16Abram war 86 Jahre alt, als Hagar Ismael zur Welt brachte. (BB)

Liebe Gemeinde, heute feiern wir den Gottesdienst Misericordias Domini, zu deutsch: Gott ist barmherzig. Was es bedeutet, dass wir an einen barmherzigen Gott glauben, wollen wir uns anhand der soeben gelesenen Erzählung aus Gen 16 bewusst machen. Ich habe mich diesen Sonntag für die alttestamentliche Perikope entschieden, da sie, anders als die Texte des Hirtenmotivs im Neuen Testament, einen Einblick in die Namen Gottes gibt.

Der Schwerpunkt meiner Predigt liegt auf Gen 16,13, der Jahreslosung 2023. Obwohl ich den Text aus der Basis Bibel gelesen habe, bin ich mit der Übersetzung, was V. 13 angeht, nicht ganz einverstanden. Ich habe verschiedene Übertragungen zu Rate gezogen, aber mir ist aufgefallen: Nur zwei stellen bei V. 13 eine Frage. Während es bei Luther und vielen anderen Übersetzern heißt: „Denn sie sprach: Gewiss1 habe ich hier hinter dem hergesehen, der mich angesehen hat“, so übersetzt Calvin: „Denn sie sprach: ‚Habe2 ich nicht hier den gesehen, der mich sieht?’“ Hier bleibt es Hagar fraglich, wer mit ihr gesprochen und wen sie gesehen hat.

Sie fragen sich vielleicht, wieso ich auf diese Differenz verweise? Nicht grammatische Spitzfindigkeit treibt mich an, sondern die Wahrnehmung, dass für Hagar die Begegnung mit Gott nicht so sehr Ausdruck ihrer inneren Erfahrung war, sondern ein konkretes Widerfahrnis: Dass der Gott Israels sich ihr als ein sie Anschauender offenbart, ist für mich Ausdruck reiner Barmherzigkeit. Hinzufügen möchte ich: Calvins Übersetzung ist dem hebräischen Text näher als Luthers Übersetzung, was auch die Übersetzung – vielleicht kennen einige von ihnen sie – von Martin Buber und Franz Rosenzweig aus den 1920er Jahren bestätigt, die Hagar ebenfalls eine Frage stellen lassen, ihr also keine Sicherheit in der Begegnung mit Gott unterstellen.3 Wer der ist, der Hagar ansieht, lässt sich nicht allgemein aussagen, sondern wird in Gen 16 erzählerisch entfaltet. Schauen wir einmal genauer in die Begebenheit hinein!

Alles beginnt mit einem kühnen, ja verwegenen Plan: Sarai ist das verwehrt, was einer antiken Frau, familiär und gesellschaftlich gesehen, besser niemals nicht verwehrt sein sollte, nämlich Nachkommenschaft. Ihre Kinderlosigkeit belastet ihre Ehe und also das Leben in der Sippe Abrams aus ihrer Sicht so stark, dass sie „eigenmächtig und unerwartet in den Lauf der Dinge“4 eingreift. So setzt sie, wie in Gen 12 zu lesen, die Verheißung des Nachkommen aufs Spiel. Es geht Sarai darum, ihren unverschuldeten Zustand zu überwinden; darum versucht sie selbst nachzuhelfen und fordert von ihrem Ehemann Unerhörtes: Er soll das von ihr so lange ersehnte Kind mit einer anderen Frau zeugen. Ihr Plan resultiert aus Angst, sozial randständig zu werden, weil sie der Sippe keinen Nachwuchs und also keine Zukunft zu schenken vermag.

Sarai geht davon aus, dass das von Abram und Hagar gezeugte Kind ihr Kind sein kann. Es fällt auf, dass Abram Sarais Ängste nicht kritisch anspricht, sondern ihrem Vorhaben wortlos Folge leistet. Abrams Sprachlosigkeit ist bezeichnend: Als Familienoberhaupt könnte er Sarais Plan zurückweisen. Dass er das unterlässt und nicht auf Gottes Verheißung hinweist, sondern stumm einwilligt, bestätigt auch sein Misstrauen der Verheißung Gottes gegenüber – Hagar, die bitter erkennen muss, dass sie zum Spielball der Ränke der Eheleute geworden ist, fügt sich jedoch nicht in die aufgetragene Rolle als Leihmutter. Die Verse 4-6 erzählen, dass es innerhalb dieser Dreiecksbeziehung zu unterschiedlichen Arten von Intrigen kommt: Hagar verachtet Sarai. Jene tut, was diese am meisten fürchtet, sie bestätigt sie in ihrer (scheinbaren) Randexistenz. Sarai rächt durch fortgesetzte Demütigungen Hagars Abscheu, woraufhin diese aus Verzweiflung in die Wüste flieht und Gott ihre Not klagt.

Abrams Rolle in diesem unrühmlichen Spiel ist gleichfalls recht unrühmlich, denn als Familienoberhaupt mit unumschränkter Rechtsbefugnis ist er es, der Hagar letztlich verstößt – seine Sprachlosigkeit vor Sarai hat er überwunden, nicht aber vor Hagar. Er ist neben Adam der zweite Mann im Buch Genesis, „der auf die Stimme seiner Frau hört [...] und dabei etwas zumindest Zweifelhaftes“ tut. Unsere Erzählung mutet uns einen merkwürdigen Gedanken zu: Wo die Familienbande derart eng, jedoch zugleich von Unrecht geprägt sind, da geht es ohne seelische Verletzungen niemals ab, ja, da wird aus dem Allernächsten, dem und der Geliebten der Ferne, der Fremde, der Feind. Nicht umsonst heißt der Name Hagar übersetzt: die Fremde.

Was also ist geschehen? Die sozial höher gestellte Frau rächte sich an der Frau, die ihr untergeben war. Sie beschämt und schmäht die, die sie als ihre Herrn versprochen hat, zu be-schützen und zu versorgen. Die Dienerin Hagar kann es nachvollziehbarerweise nicht mehr in Abrams Sippe aushalten. Flucht scheint für sie der einzige Weg, diese bedrängende Situation, auch um ihrer Leibesfrucht und deren Gesundheit willen, zu ändern. Vor diesem Hintergrund erfährt die Erzählung nun eine „Wendung“, denn jetzt „bemächtigt sich Gott selbst der Szene und nimmt den Gang der Verheißungsgeschichte wieder [...] in die Hand“. Ich frage: Welcher Gott?

Dieser mittelalterliche italienische Stich stellt Gottes Fürsorge für seine Schöpfung auf dreifache Weise dar. Gott ist zuerst ein Allesseher, dann ein Alleskönner und er ist schließlich derjenige, der seine Geschöpfe lieb hat. Ich frage angesichts dieses Bildes: Woher wissen wir, dass der Gott, der alles sieht und vermag, der Gott der Bibel, der Gott Israels ist? Wie können wir behaupten, dass ein solcher Gott der Gott Hagars ist, der ja ihr Elend sieht? Besteht nicht zwischen dem mittelalterlichen Gottesbild und der antiken Gottesbegegnung in der Wüste ein Unterschied bezüglich Gottes Fürsorge, nämlich so, dass Gott hier als ein Übervater, dort als der treue Begleiter seiner Schöpfung vorgestellt wird? Könnte nicht die Rede von einem Gott, der alles sieht, dazu missbraucht werden, Menschen in erzieherisch gefügig zu machen? Und ist nicht das eine „schwarze Pädagogik“? Mich befremdet dies Gottesbild, denn ihm fehlt die persönliche Note, die unsere Jahreslosung gerade ausmacht, nämlich dass der Gott Israels ein Gott ist, der mich sieht. Ich gestehe zu, dass dies eine modern-subjektivistische Sichtweise ist, aber ich verstehe unsere Erzählung als Erzählung der Fürsorge Gottes in Krisenzeiten.

Hagar ist doch in Not, sie kämpft, hochschwanger übrigens, in der Wüste ums nackte Überleben. Sie droht zu verdursten. In solchen Zeiten, so der Bibeltext, erbarmt sich der Gott Israels seiner Kinder, der Erhabenen und Vornehmen, dafür stehen nämlich Abram und Sarai, ebenso wie Fremden, Ausgestoßenen. Das ist es, was uns diese Erzählung uns am Sonntag Misericordias Domini sagen möchte: Im Bann zerbrechender Lebensbeziehungen spricht Gott ein Ja zu dir und mir und er spricht es, merk-würdig ist das, als „Engel des Herrn“.

Dieser Ausdruck lässt aufhorchen: Engel sind in der Bibel Gottesboten, die Menschen, die sie antreffen, gute Nachricht überbringt. In unsrem Text ist dieser Engel aber mehr als nur ein Bote. Hier verschmilzt der Gottesbote mit Gott und diese Verschmelzung ist – von Hagar aus betrachtet – eine Bedeutungserweiterung des Namens Gottes, den Juden nicht aussprech-en, und der mit vier Buchstaben wiedergegeben wird: JHWH! Ich bin, der ich bin, wie Luther übersetzt hat, oder besser: Ich bin da, wie Buber und Rosenzweig übersetzt haben. Der Name Gottes ist ein Geheimnis, in das keiner vorschnell eindringen soll. Er selbst sagt uns, wer und wie er ist. Er ist der Dabeiseinde, der große Umsorger, und, so bekennt Hagar, er ist der mich Ansehende – das Verb „sehen“ ist hier in erstaunlich vielen Facetten dargeboten: Das EL-ROI meint ansehen, hinsehen, nach jemandem sehen u.v.m.

Wo von Gottes Name die Rede ist, da ist, wie hier, auch von seinen Verheißungen die Rede und Hagar wird gewürdigt mit zwei Verheißungen: Sie soll zahlreiche Nachkommen ge-bären, rückt somit also in die gleiche Position, in die später auch Sarah von Gott versetzt wird und sie bringt einen Sohn zur Welt, dessen Name bedeutet: „JHWH hat dein Elend gehört.“ In diesem Punkt erweitert die Erzählung Gottes Namen über eine weitere Facette: Er ist sowohl der Sehende, als auch der Hörende. Beide Namen stehen für sein Retterhandeln. Als EL-ROI sieht er mich, wie ich wirklich bin, als „Ismael“ hört er, was ich zum Leben benötige.

In unserer Erzählung ist es das, was am nächsten liegt: Hagar braucht Wasser, sonst sterben sie und ihr ungeborenes Kind. Was ist es, das wir brauchen? Wo wurden oder werden wir gesehen, gehört? Wo sehen und hören wir einander? Im Raum der Gemeinde und darüber hinaus? Gen 16,13 ist der Schlüsselvers der ganzen Erzählung: Im Rückblick wird erkannt, was Hagars Leben bedeutete. Mag es zwischen Menschen, die sich nahe stehen, zu Sprach- und Beziehungsabbrüchen kommen – der Gott Israels bleibst weder stumm noch taub unserer Not gegenüber. Er spricht befreiend in das Leben hinein, wendet es, wie bei Hagar Sarai und Abram wieder zu. Beiden jedoch zum Trotz, so wie ihr Sohn an die Seite Isaaks rückt. Es ist also Gottes Sehen, keine abstrakte Vorsehung, sondern konkrete Fürsorge: Was brauche ich? Was brauchst du? Was brauchen wir, um einander nicht Feind, sondern Freund, Nächster zu sein? Hagar geht gestärkt aus der Gottesbegegnung hervor. Der Gott, der viele Namen hat, hat es sich selbst vorbehalten, zu sagen, wer und wie er ist. Er hat Hagar besonders gewürdigt. Sie sieht ihn als Engel „von vorne“. Der große Mose durfte Gott (nur) „von hinten“ sehen (Ex 22, 12-23). Ist das nicht geradezu eine Adelung dieser Frau? Ich komme zum Schluss.

Der Gott Israels macht sich uns bekannt. Er spricht, er hört, er hilft, er errettet. Auf ihn ist Verlass – wenn uns verlassen, die uns am nächsten sind. Er ist uns näher als wir uns selbst, darin besteht die Fürsorge Gottes in der Krise. Fürsorge meint Hilfe in spezifischer Not. Kein pauschales „alles sehen“ ist mir von Nutzen, sondern Gottes besonderes Eintreten für mich,  für meine Nächsten. Von dort her wird auch ansichtig, wieso Hagars Leben angesichts dieser Gottesbegegnung so fraglich ist. Sie war zuerst eine Sklavin in Ägypten, dann Haushaltshilfe bei Sarai, schließlich eine Ausgestoßene. Wurde sie auf ihr Fremdsein, wie ihr Name verrät, festgelegt? Sei es, wie es sei! Ihr Lebensweg, ein Weg voller Fragwürdigkeit – im Angesichte Gottes. Für den Gott Israels ist sie keine Fremde. Nein! Vor ihm ist sie eine hoch angesehene Frau und Mutter.

Amen.


Dennis Schönberger