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Wittenberg – die andere Seite
Mittwochs-Kolumne. Von Kathrin Oxen, Wittenberg
„Sendbrief an die verstreuten Calvinisten aus den lutherischen Landen“? So mitteloriginell, diese historische Anmutung. Wird ganz gerne genommen beim Thema Reformation und Wittenberg, aber wir leben ja schließlich nicht mehr im Mittelalter. Oder doch lieber irgendwas mit Osten oder Zone? Auch das eine Wahrnehmung: Ganz schön weit weg, ganz schön weit im Osten, irgendwo dahinten im Land der Gottlosen.
„Wittenberg - die andere Seite“ klingt angenehm reißerisch, verspricht Hintergrundinfos, die so keiner hat und Einblicke in die tatsächlichen Ereignisse vor Ort nur drei Jahre vor dem Großereignis „500 Jahre Reformation“. „Luther 2017“ heißt es ja schließlich nur auf der Wort-Bild-Marke, in sämtlichen Tourismusprospekten und seit kurzem auch auf dem „weltweit größten Lutherbanner“ 16 x 7 Meter groß am Baugerüst des Schlosskirchenturms. Noch wussten selbst die Wittenberger nicht, dass es offenbar einen Wettbewerb der Lutherbanner gibt. Wundern wird es sie nicht, gibt es doch schließlich in der Stadt fast alles mit Luther.
Die andere Seite Wittenbergs, um die wird es gehen in dieser Kolumne. „Nachrichten aus der ostdeutschen Provinz“ könnte sie auch heißen, „Neues aus der Kulturlandschaft Mitteldeutschland“ oder vielleicht einfach „Aus dem Land der Frühaufsteher“? Irgendwo in der Schnittmenge aller dieser Zuschreibungen liegt die Stadt an der Elbe, die nun zum Austragungsort der Reformationsfestspiele 2017 werden soll. Die Garmisch-Partenkirchener konnten sich gegen Olympia seinerzeit wehren. Und die Wittenberger müssen immer noch überzeugt werden. Denn die Wirklichkeit sieht hier so aus: Von den 28 Kindern in der Klasse meiner ältesten Tochter sind drei getauft. Davon sind zwei aus dem Westen zugezogen. Meine Kinder fragen, ob die Optikerin, die ihnen die Brillen anpasst, wohl christlich ist, denn die wäre doch neulich auch im Gemeindehaus beim Adventsnachmittag gewesen.
Christlich oder nicht-christlich, das ist die Frage in Wittenberg. Mit so etwas nachgeordnetem wie Konfessionen geben wir uns gar nicht erst ab. Selbst wenn wir alle, wirklich alle, dazu zählen, kommen wir nicht auf 15% Christinnen und Christen. Hier muss sich schon seit Jahrzehnten niemand mehr dafür rechtfertigen, kein Kirchenmitglied zu sein, im Gegenteil: Das ist normal. Begründungspflichtig werden die, die christlich sind und die fangen damit tatsächlich schon sehr früh an. „Was macht man den so als Christ“, wurden meine Kinder schon gefragt, als sie bei Schulfreunden am Abendbrottisch saßen. „Beten? Was betet man denn da so?“. Fragen, die wohl auch die im Westen häufiger vorkommenden Kirchenfernen etwas ins Stottern bringen würden. Hier gibt es keine Kirchenfernen. Hier gibt es Christen und Nicht-Christen. Und knapp 15% möchten jetzt gut 85% Prozent überzeugen, dass es sinnvoll, gut und sogar ein tolles Erlebnis für die Stadt Wittenberg sein wird, wenn hier bald 500 Jahre Reformation gefeiert werden. Unter anderem das macht man hier so, als Christ.
Kathrin Oxen, 19. März 2014
Kathrin Oxen leitet seit 2012 das Zentrum für evangelische Predigtkultur und lebt mit ihrem Mann, Karl Friedrich Ulrichs, und vier Kindern in der Lutherstadt Wittenberg. Zuvor war sie acht Jahre lang Pfarrerin der ev.-reformierten Kirche in Mecklenburg.