Hier stehe ich

Predigt zum Reformationstagsgottesdienst

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Von Stephan Schaar

Friede sei mit euch von dem, der da ist und der da war und der da kommt! AMEN.

Hier stehe ich, liebe Gemeinde!

Wenig überraschend, stehe ich auf der Kanzel.

Die Worte: “Hier stehe ich” wären aber kein Zitat wert, wenn sie nicht das berühmte Bekenntnis Martin Luthers zu seinen Schriften eingeleitet hätten. Der mehr oder weniger legendenhaften Überlieferung nach sagte er auf dem Reichstag in Worms 1521 anschließend: “Ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen.”

Nun, ich könnte durchaus anders; in einer Entscheidungssituation auf Leben und Tod befinde ich mich - Gott sei Dank! - nicht.
Auch wird mittlerweile nicht mehr um wahr oder falsch gerungen, sondern leider nur noch geshitstormt, und in den Talkshows hört man einander nicht zu, sondern redet systematisch aneinander vorbei.

Hier stehe ich also und habe etwas zu sagen- und das nicht etwa nur deshalb, weil es nun mal mein “Job” ist. Ich hoffe, daß Sie bereit sind, mir zuzuhören! Ich stehe hier, habe einen Standort, habe eine Grundlage für das, was es zu sagen gilt: Jesus Christus ist die Basis aller christlichen Verkündigung. Einen anderen Grund kann niemand legen...

Einen Stand-Ort haben wir zwar; aber haben wir auch einen Stand-Punkt, womöglich einen gemeinsamen Standpunkt, liebe Gemeinde? Wenn jeder und jede steht, wo er oder sie gerade stehen möchte, auch wenn wir uns allesamt auf den Grund beziehen, der gelegt ist, und auf die Tradition, die darauf fußt: Wohin soll das dann führen? Oder stehen wir - gerade eben noch -, aber was einmal eine Reform-Bewegung war, ist längst zum Stillstand gekommen, so wie es auch in unserer Gesellschaft allem Anschein nach nur noch Problembeschreibungen gibt, aber kaum noch Entwicklungen, die uns Hoffnung machen, weil zu erkennen oder zumindest zu ahnen ist, daß es darum geht, um Problem-Lösungen zu ringen?

Da wir stehen wir nun also mit der Klimakatastrophe, die uns lähmt.
Da stehen wir auch mit der Überforderung durch immer mehr Zuwanderung bei gleichzeitiger Ratlosigkeit angesichts von zunehmendem Elend in jenen Ländern, aus denen die Geflüchteten zu uns kommen, indem sie ihr Leben riskieren.
Da stehen wir, trutzig wie einst der große Reformator, boykottieren Rußlands Wirtschaft, liefern Waffen in die Ukraine - und sehen doch kein Ende dieses Krieges ab.
Da stehen wir, in Israels Schuld stehen wir auf ewig, und schütteln den Kopf über die  jahrzehntelange Konfrontation zwischen Juden und Muslimen, Israelis und Palästinensern, die sich beide im Recht wähnen und beide Unrecht begehen, Blut vergießen, Menschenrechte verletzen.
Da stehen wir und hängen Plakate vor unsere Kirchen: “Weil du ein Segen bist” - aber ich kennen niemanden, den das dazu bewogen hat, sich taufen zu lassen.

Quo vadis, Evangelische Kirche?
Wohin gehen wir, liebe Schwester und Brüder?
Oder bleiben wir stehen, solange wir können, bis nicht nur der Meeresspiegel so weit ansteigt, daß viele sich in Bewegung setzen und ein neues Zuhause finden müssen, weil ihres in den Fluten versinkt, sondern auch uns irgendwann das Wasser bis zum Hals steht?

Wenn Sie jetzt erwarten, daß ich darauf Antworten gebe, muß ich Sie enttäuschen: Ich habe zwar die eine oder andere Idee, was zu tun wäre, wohin es gehen soll. Aber darüber sind wir doch in reichlich fünf Jahrhunderten hinausgegangen, daß einer allein ansagt, wohin es geht; das müssen wir diskutieren, darum müssen wir ringen.

Es sei mir als Reformiertem erlaubt, diese Mini-Predigt mit einem Zitat des Zürcher Reformators Huldrych Zwingli zu beenden, mit dem sich Martin Luther beim Religionsgespräch 1529 in Marburg leider nur in 14 von 15 Punkten, nicht aber auf ein gemeinsames Verständnis des Abendmahls einigen konnte:

„Es ist nicht Aufgabe eines Christen, großartig zu reden über Lehren, sondern immerdar mit Gott große und schwierige Dinge zu vollbringen.“
Laßt uns also, liebe Reformationstags-Gemeinde, nicht stehenbleiben, sondern aufbrechen.

Gott helfe uns!

Amen.


Stephan Schaar