Wie fromm bin ich eigentlich?

Zwischen den ''Hoch-Religiösen'' und dem Glauben der Schimpansen zieht die Kolumnistin fröhlich ihre Straße.

Die Mittwochs-Kolumne. Von Barbara Schenck

Die Protestant_innen in Europa seien weniger religiös als Mitglieder anderer Religionsgemeinschaften, so ein Fazit des "Religionsmonitors 2013". Prompt titelt eine epd-Meldung: "Studie: Europas Protestanten haben den schwächsten Glauben". Verschwindet unter dem wachen Schirm des "Monitors" unser evangelischer Glaube?

Etwas nervös macht mich diese Meldung schon. Also ist Vorwärtsverteidigung angesagt, zuerst aber ein Blick in die Studie: Was hat der Religionsmonitor gemessen? Die "Kirchlichkeit" anhand der Gottesdienstbesuche (monatlich oder öfter) und die "Religiosität" unter Fragen: Wie stark glauben Sie daran, dass Gott [Gottheiten] oder etwas Göttliches existiert? / Als wie religiös würden Sie sich selbst einschätzen (in einer 5er Skala von "gar nicht" bis "sehr")? Dann folgt die Bewertung von Familie, Freunde, Freizeit, Arbeit/Beruf, Politik, Religion, Spiritualität in 4er-Skalen (von "sehr wichtig" bis "überhaupt nicht wichtig").

Kirchlichkeit - komplex

Vor einigen Jahren hat mein Schwiegervater meine Tochter getauft. Nach dem Gottesdienst luden wir die beiden Großfamilien zu einer Feier im Gemeindesaal ein. War das nun Ausdruck meiner Religiosität oder meiner Wertschätzung der Familie?
Mein durchschnittlicher Gottesdienstbesuch ließe sich leicht errechnen, dachte ich, bevor ich's versuchte. Zählen die Trauergottesdienste in der Woche mit?
Zur Kirche im Sinne der "ekklesia" im Neuen Testament gehört neben der Ortsgemeinde und der weltweiten Ökumene auch das Haus, wie etwa das Haus des Philemon (Philemon 2), also eine "soziale Vorform der Familie". Das Gebet im Haus der Familie, welche Form auch immer diese haben mag, gehört also auch zur biblischen Kirche-Sein, gibt Christian Grethlein, Professor für Praktische Theologie, zu bedenken. Die Berechnung der Kirchlichkeit wird komplex.

Religiosität - kompliziert

Komplizierter jedoch ist die Frage nach der Religiosität. Auch in diesem Teil des Lebens möchte ich unsere Mitgeschöpfe und vor allem unsere nahen Verwandten in der Gruppe der Menschenaffen, die Schimpansen, nicht aus dem Blick verlieren. In Nigeria lebt eine Gruppe von Schimpansen, die täglich Ameisen verspeist, nicht aber Termiten. Dieses "Brauchtum" sei bemerkenswert, erläutert der Affenforscher Volker Sommer, denn: Ameisen beißen beim Verzehr "heftig" und haben vermutlich "keinerlei Nährwert". Andere Schimpansen verschmähen die Ameisen und greifen zu den nahrhaften, leckeren Termiten. Futtern Affen Ameisen statt Termiten, zeigen sie damit: "Ich gehöre zu einer sozialen Gemeinschaft. Ich bin anders als die Termitenfresser." Etwas Unangenehmes, gar Schmerzhaftes zu tun wie schlecht schmeckende Dinge zu verspeisen, ist eine kulturelle Praktik und stiftet eine soziale Identität. Darin sieht der Verhaltensbiologe Sommer eine "deutliche Verbindung zur Religionsausübung bei Menschen". Bei religiösen Riten ginge es ja ebenfalls darum, "sich konform zu verhalten und mit anderen quasi irrational gemeinsam zu handeln." Sommer meint: "Als Gläubige tun wir etwas oder lassen es sein, obwohl es dafür keinen vernünftigen Grund gibt. Oder besser: Gerade weil es an sich unsinnig ist." Sollte nun etwa der Unterschied zwischen Brot und Wein beim Abendmahl und der täglichen Ameisenmahlzeit vornehmlich in der zeitlichen Taktung bestehen: ein paar Mal im Jahr kontra jeden Tag? Was ist dann höher religiös?

Spätestens jetzt ist es an der Zeit, beim guten alten Karl Barth, dem Kritiker der religiösen Rede, nachzulesen:
"das religiöse Gefühl kann den Menschen ebensowohl von der Gottesfrage ablenken als zu ihr hinführen. Religion und Sinn für Gott sind noch nie gleichbedeutend gewesen ... Die biblische Frömmigkeit ... ist in ihrem Wesen Demut, Furcht des Herrn."
In diesem Moment platziere ich meine eigene Frömmigkeit nach der Rangordnung des väterlichen Rufs in Markus 9,24: "Ich glaube! Hilf' meinem Unglauben!"

Ein Nachtrag für alle, die diese Kolumne über Facebook lesen:
Mit einem unter Klarnamen im Web 2.0 veröffentlichten "Glaubensbekenntnis" gehöre ich zu einer Minderheit der Facebook User, nämlich den 10 bis 20%, die laut Digital Native Philipp Riederle "intime Daten wie religiöse Ansichten, sexuelle Orientierung oder politische Einstellungen" publizieren.

Literatur

Barth, Karl, Biblische Fragen, Einsichten und Ausblicke (Vortrag für die Aarauer Studenten-Konferenz April 1920), in: Das Wort Gottes und die Theologie. gesammelte Vorträge, Chr. Kaiser Verlag München 1925, 70-98, Zitate 72.81.

Grethlein, Christian, Pfarrberuf vor alten und neuen Herausforderungen. Überlegungen zu Orientierung und Transformation eines theologischen Berufs (November 2010), online: http://www.kip.elk-wue.de/cms/startseite/referate-der-tagungen-2006-2010/2010-referat-prof-dr-christian-grethlein/

Riederle, Philipp, Wer wir sind und was wir wollen. Ein Digital Native erklärt seine Generation, Knaur Taschenbuch München 2013.

Interview von Jörn Auf dem Kampe und Rainer Harf mit Prof. Dr. Volker Sommer, in: GEOkompakt Nr. 33: Wie Tiere denken, 138-145.

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Barbara Schenck, 3. Juli 2013