Obwohl, ganz abwegig scheint mir das Nachhaltigkeits-Leitwort nicht. Die Theorie des Predigens jedoch, die Homiletik, empfiehlt etwas Anderes: Aufmerksamkeit. Ausgerechnet ein Begriff aus der Psychologie soll das Leitwort für eine gute politische Predigt sein? Aufmerksamkeit, da denke ich sofort an das Gegenteil, an das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS), also an zappelnde Kinder und mit Ritalin ins Dösen versetzte Jugendliche.
Aufmerksamkeit, sitzt das Wort erst 'mal im Kopf, dann leuchtet es aus dem, was der Tag so bringt. In einem offenen Brief bittet Superintendent Bruckhoff um Aufmerksamkeit für die Resolution »Flucht ist kein Verbrechen - Flucht ist ein Menschenrecht!« Facebook wiederum lenkt meine Aufmerksamkeit auf einen Vortrag der Filmemacherin Julia Bacha über »the power of attention«. Bacha ist überzeugt, würde dem gewaltlosen Widerstand, etwa von Seiten der Palästinenser, mehr Aufmerksamkeit gewidmet, hätte die Gewaltlosigkeit eine bessere Chance, sich zur Lösung von Konflikten durchzusetzen. Wenn Gewalttäter_innen die einzigen seien, die Coverfotos und Geschichten bekommen, sei es schwierig für die Gewaltlosen, »in ihren Gemeinschaften die These aufzustellen, dass ziviler Ungehorsam eine gangbare Option ist«.
Zurück zur Homiletik. Der Zürcher Theologe Thomas Schlag spricht von der Aufmerksamkeits-Kunst gegenwärtiger Kanzelrede. Diese hat viele Facetten. Zwei greife ich mir heraus. Erstens: Aufmerksamkeit entzieht sich den »spektakulären Gegensätzen von Wahr und Falsch, von Gut und Böse, von Recht und Unrecht, von Nützlich und Unnütz, von Freiheit und Abhängigkeit«, wie es der Philosoph Bernhard Waldenfels formuliert. Ja, Aufmerksamkeit tut der Predigt gut (einer Kolumne auch), denn was geht langweiliger am Leben vorbei als eine Rede, die vom Klischee des armen alten Mütterchens hin zum habgierigen Banker wabbert.
Punkt zwei ist mir etwas unangenehm. Aufmerksamkeit gilt eben auch den Redenden selbst gegenüber. Ach ja, mit dem Wirtschafts- und Finanzsystem, das ist doch alles recht kompliziert. Was muss geändert werden und wie genau? In meiner Kirchengemeinde, erst recht in der reformierten Online-Community bin ich bestimmt nicht die Bestinformierte. Sollte es da an mir sein, einen politischen Kommentar abzugeben? Von oben herab andere zuzudröhnen ist ja sowieso megaout. Aber wenn ich mich nicht traue, klare Worte zu sagen, neige ich dann vielleicht dazu, den von allerlei Kümmernissen geplagten, aber nicht ernsthaft leidenden Menschen zu viel Raum zu geben, wie es der einstige Regierungsrat Peter Schmid-Scheibler in vielen Gottesdiensten empfindet? Ich fühle mich ertappt, also schnell zur Schlussgeschichte.
Letzten Sonntag war ich als Predigthörende einmal aufmerksam. Es ging um Jitro, Moses Schwiegervater. Jitro beobachtet, was Mose tut: das Volk beraten, Streit schlichten, zwischen Israel und Gott vermitteln. Er fragt Mose, warum er das ganz allein tue und rät ihm andere zu beteiligen. Das könnte man als väterlichen Rat gegen Burnout deuten, aber: Jitro hat als erstes gar nicht nach Moses Befinden gefragt, sondern nach dem Volk: »Was tust du denn mit dem Volk?« Die Leute, für die Mose sorgt, die liegen Jitro am Herzen. Sie sollen auf gar keinen Fall entmündigt werden. Das will Jitro sagen: Lass die anderen Verantwortung übernehmen! Sie müssen selber denken!
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Barbara Schenck, 22. Januar 2014
Literatur
Thomas Schlag, Was hat der Prediger politisch noch zu bedeuten? Pastoraltheologische und kirchentheoretische Überlegungen zur Aufmerksamkeits-Kunst gegenwärtiger Kanzelrede, in:
Politischer Gottesdienst?!, hrsg. von Katrin Kusmierz und David Plüss, Praktische Theologie im reformierten Kontext 8, TVZ, Zürich 2013, 59-71.
Für März 2014 kündigt der TVZ Schlags Buch »Aufmerksam predigen. Eine homiletische Grundperspektive« an.
Peter Schmid-Scheibler, Plädoyer für den nachvollziehbaren Mut, in: Politischer Gottesdienst?!, 31-33.