Liebe Gemeinde,
noch ein weiterer Sonntag, dann ist schon Advent. Am Ende des Kirchenjahres geht es um nichts Geringeres als ums Endgericht. Und um das, was daraus für unser Leben folgt.
Ich lese aus dem Matthäusevangelium, Kapitel 25, die Verse 31–46. (…)
Wir klammern diesen Text gern aus. Und auch ich habe gedacht: Brauchen wir das jetzt? Szenen vom Endgericht? – Barmherzig und gnädig ist der Herr, geduldig und von großer Güte. Steht es nicht so in Psalm 130? Ja, das steht da. Und im Buch Hiob steht zumindest die Sehnsucht danach. Aber das Matthäusevangelium enthält über zwei lange Kapitel eine große Endzeitrede Jesu an seine Jünger. Am Anfang des Evangeliums die Bergpredigt. Am Ende die Endzeitrede – eine Rede mit Erzählungen und Gleichnissen, keine Mahn- oder Gerichtsrede. Das sollt ihr wissen, liebe Jünger. So wird es sein. Damit beantworte ich eure Frage nach dem Weltende.
Die Künstler, die sich mit diesem sehr bildhaften Text beschäftigt haben, konnten zwischen drei Motiven wählen:
Das erste Bildmotiv könnte Jesus sein, wie er mit seinen Jüngern auf dem Ölberg sitzt und ihnen diese Rede hält und darin diese Geschichte erzählt. Das gibt natürlich von möglicher Bilddramatik aus betrachtet nicht viel her. Kaum jemand hat dieses Motiv gewählt.
Das zweite Bildmotiv ist die Einleitung, also die Richtergestalt, die auf dem Thron sitzt und die Menschen aller Völker sortiert: die guten zur Rechten, die schlechten zur Linken. Vom Betrachter aus links Bilder des ewigen Lebens, rechts Bilder der ewigen Strafe. Mit der Zeit kamen noch Fürsprecher dazu: Maria links, Johannes der Täufer rechts. Bildreich wurde ausgeschmückt, was die Beurteilten erwartet: Himmel oder Paradies links, der Höllenschlund rechts.
Im Vergleich zum ersten Bildmotiv ist das richtiges Kino. Und besonderen Spaß machte dieses Motiv, wenn man bekannte andere Personen auf die Höllenseite malen konnte oder sie dort entdecken konnte. Päpste zum Beispiel. Oder Türken mit Turban. Das war auch ein beliebtes Motiv.
Das dritte mögliche Bildmotiv ist der Inhalt der Rede. Da bietet sich die Form des Wimmelbildes an. Und so ein Wimmelbild ist auch das bekannte von Pieter Breughel, der die Werke der Barmherzigkeit auf einem Bild in Alltagssituationen darstellt. Da werden vier sitzenden Nackten ein weißes Unterhemd übergestülpt, die Hosen stehen schon zum Hineinschlüpfen parat. Zwei Pilger werden vor einem Haus willkommen geheißen. Ein Krankenbesuch wird gemacht. Zwei Gefangene sind dadurch festgesetzt, dass ihre Beine in einem Brett mit Löchern stecken, so dass sie nicht fortkönnen. Besucht werden sie aber. Und es gibt zwei Schlangen von Menschen, die eine vor Fässern, aus denen Wasser oder Wein abgezapft wird, die andere vor einer Brotausgabestelle. Ein Hündchen läuft durch die Szenerie.
Für welches Bild entscheiden wir uns? Der Richter auf dem Richterstuhl oder die Werke der Barmherzigkeit?
Luther hat viel Energie darauf verwendet, theologisch klarzustellen, dass der Mensch von Gott gerecht gesprochen wird aufgrund seines Glaubens, nicht aufgrund seiner Werke. Sein Kronzeugentext war eine Formulierung von Paulus in dessen Brief an die Gemeinde in Rom:
Wer also kann Anklage erheben gegen die Menschen, die Gott auserwählt hat? Gott selbst erklärt sie doch für gerecht! Wer kann uns da noch verurteilen? Schließlich tritt doch Christus Jesus für uns ein – der gestorben ist, mehr noch: der auferweckt wurde und an der rechten Seite Gottes sitzt. – Nicht Maria sitzt zur Rechten des Richters und bittet für die Menschen im Endgericht. Jesus sitzt da. Und Gott richtet nicht, weil er uns schon durch Jesus Christus alle Sünden vergeben hat und uns nichts mehr trennen kann von seiner Liebe. Für Luther wie Paulus war klar: Der Glaube rettet, der Glaube stiftet Gemeinschaft zwischen Gott und mir, nicht meine guten Werke.
Paulus hat das Matthäusevangelium noch nicht gekannt. Es wurde 20 Jahre nach dem Brief an die Römer geschrieben. Luther aber hat es gekannt. Und er hat gelitten unter der Vorstellung, am Ende in der Hölle zu landen. Er hat erlebt – am eigenen Leib und in vielen seelsorgerlichen Gesprächen –, wie es ist, wenn dieses Gerichtsbild allzu mächtig wird. Und er hat dagegen Paulus stark gemacht. Und alle Fürsprecher abgeschafft. Calvin und Zwingli haben auch alle bildlichen Darstellungen entfernt. Niemand mehr sollte jeden Sonntag auf Bilder sehen statt das lebendig machende Wort Gottes zu hören. Innig und direkt sollte die Beziehung zwischen Gott und Mensch werden. Nicht von Angst bestimmt.
Also entscheiden wir uns für lieber gar keins der drei Bildmotive. Das ist nicht so einfach, zumal ich ja gerade beide Bildtypen beschrieben habe. Und oft kennt man solche Bildtypen, auch wenn sie nicht in der Kirche hängen. Ich kenne sie aus Ausstellungen und von Kirchenbesuchen in Urlauben.
Schauen wir noch einmal in den Text: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen.
Der Clou besteht nicht in moralischen Ermahnungen und Drohungen. Der Clou besteht darin, dass die Gerechten dann verwundert fragen, wann denn all diese Begegnungen stattgefunden hätten. Sie können sich an nichts dergleichen erinnern. Und der Richter antwortet: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan. Es ist eine Variation des alten Doppelgebots der Liebe: Gott und den Nächsten lieben. Das eine nicht ohne das andere. In meinem Nächsten Gottes Ebenbild, ja Gott selbst sehen.
Zur innigen Beziehung zwischen Gott und dir tritt der Mitmensch: du und der andere. Er ist wie du. Auch Gottes Kind. Es wird übrigens nicht unterschieden zwischen Juden und Nichtjuden, zwischen Christen und Nichtchristen. Die Fremden kommen ganz ausdrücklich vor. Im Fremden den Bruder sehen.
Beide Gruppen in dieser Erzählung wissen nicht, dass das, was sie getan haben oder nicht getan haben, ein Liebeswerk für Gott war. Die einen fragen so verwundert wie die anderen: Wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben? Oder: Wann haben wir dich als Fremden gesehen und dir nicht gedient? Sie tun es. Oder sie tun es nicht. Aber beide Handlungen geschehen aus Unwissenheit und vor allem ohne Berechnung. Das Gute muss um seiner selbst willen getan werden! Das Unwissenheitsmotiv macht für uns, die Lesenden klar, dass der endzeitliche Richter von dem, was Menschen sich gegenseitig an Gutem und Bösem tun, selbst betroffen ist.
Wie weit sind wir im Moment davon entfernt? Vielleicht nicht wir als einzelne Personen, aber doch wir als Teil der Völker.
Mir kommt der Text vor wie ein Ruf aus ferner Zeit. Eine Stimme, die sagt: Du weißt nicht, in welchem Menschen dir Gott begegnet. Es sind nicht die Großen, sondern die Geringsten. Die Hungrigen, die Dürstenden, die Gefangenen, die Fremden, die Obdachlosen, die Kranken. Oder mit Bertolt Brecht:
„Denn die einen sind im Dunkeln.
Und die anderen sind im Licht.
Und man siehet die im Lichte.
Die im Dunkeln sieht man nicht.“
Lasst uns hingucken ins Dunkel. Denn jetzt ahnen wir, dass wir dort Gott begegnen könnten.
Amen.