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'Diskussionen um einen gerechten Frieden haben sich stark verändert'
Interview mit Tobias Zeeb
Herr Zeeb, der Ukrainekrieg prägt die Friedensdiskussion derzeit in Europa besonders. Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine sprach Bundeskanzler Scholz gar von einer „Zeitenwende“ – würden Sie das bestätigen?
Im Nachhinein scheint klar: Der russische Angriff ist ein Kipppunkt. Plötzlich hatte sich etwas in Europa deutlich verändert, wir mussten uns neue Fragen stellen. Vielleicht ist ein Begriff wie „Zeitenwende“ aber auch eine Zuschreibung, die erst aus der Rückschau sinnvoll wird. Andererseits brauchen wir etwas, um diesen Kipppunkt zu benennen, eine Art Label also, etwas, das wir später als Ausweis des damaligen Empfindens wiedererkennen.
Ab wann lässt sich von einer „Zeitenwende“ sprechen?
Das ist schwierig zu sagen. Der Ukrainekrieg hat eine Vorgeschichte, es geht hier um eine fortschreitende Bewegung. Schon der ehemalige tschechische Außenminister Karel Schwarzenberg warnte 2014 vor einer Eskalation zwischen Russland und Europa. Er betonte, schon damals dass mit der Annexion der Krim eine „Friedensepoche in Europa“ ende. Da hat man gemeinhin auch nicht von einer „Zeitenwende“ gesprochen. Der Angriffskrieg aber stellt für viele eine symbolische Grenze dar. Der Begriff „Krieg“ hat sich außerdem stark verändert.
Inwiefern?
Lange schien klar: Es gibt praktisch keine klassischen Kriege mehr: Staat gegen Staat, das ist vorbei. Stattdessen wurde vielmehr von asymmetrischen Kriegen gesprochen, wo oft innerhalb eines Staates unterschiedliche Gruppen miteinander kämpfen. Jetzt aber sehen wir wieder einen Krieg zwischen souveränen Staaten. Ein Szenario, das in weite Ferne gerückt war. Das macht es vielleicht heute schwieriger für die Menschen, Kriege zu erfassen.
Trotzdem erregt gerade der Ukrainekrieg seit 2022 große Aufmerksamkeit in Deutschland.
Kriegerische Auseinandersetzungen wie in Afghanistan oder Sudan sind uns oft fremd. Die Bilder aus der Ukraine schon weniger. Dort sehen wir Panzer, die über europäischen Boden rollen. Die Bilder rufen damit Assoziationen vom Zweiten Weltkrieg wach, Geschichten, die man noch von den eigenen Großeltern kennt.
Vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs wurde auch die Diskussion um einen „gerechten Frieden“ neu angefacht. Gibt es eine Legitimation friedensethischer Gewalt?
Ich habe das Gefühl, dass sich die Diskussionen um einen gerechten Frieden seit dem russischen Angriff 2022 stark verändert haben. Frühere Vorstellungen eines durch internationales Recht gesicherten Friedens gelten mit heutigen Erfahrungen oft als zu optimistisch. Die Diskussion verschiebt sich dabei von eher theoretischen Aspekten hin zu Fragen, die auf nicht gekannte Weise nahe gerückt sind: Wie verhalte ich mich zum in unmittelbarer Nähe vorhandenen Krieg, wie sollten wir damit konkret umgehen? 2005 versuchte man die Problematik des Eingreifens anderer Staaten in einen Konflikt bei den Vereinten Nationen mit dem Konzept der „Responsibility to Protect“ einzufangen. Staaten haben demnach eine bestimmte Schutzverantwortung gegenüber ihrer Bevölkerung. Sind sie dazu nicht willens oder in der Lage, darf die internationale Staatengemeinschaft eingreifen, auch militärisch. Vielleicht ließe sich ein solches Konzept trotz der damit verbunden Schwierigkeiten auch im Blick auf den Ukrainekrieg weiterentwickeln.
In Ihrer Forschung haben Sie sich mit der Friedensethik bei Emmanuel Levinas beschäftigt. Was macht seinen Ansatz heute aus Ihrer Sicht für uns besonders interessant?
Frieden ist bei Levinas kein Zustand, er ist ein Ereignis. Frieden beginnt demnach nicht erst mit einem internationalen Vertrag, sondern schon mit dem gesellschaftlichen Austausch. Levinas bezieht sich hier besonders auf den demokratischen Rechtsstaat. Frieden und Gerechtigkeit funktionieren dabei nur auf der Basis von Verantwortung. Menschen sind in der Gesellschaft aufeinander bezogen, es gilt also, dem anderen gegenüber Verantwortung zu zeigen.
Was heißt das für uns in Deutschland in einem internationalen Konflikt wie dem Ukrainekrieg?
Frieden bleibt immer eine Aufgabe, so hat es auch der EKD-Rat in seiner Denkschrift im Jahr 2007 festgehalten: Friede ist etwas Prozesshaftes. Es gibt zwar den Zustand des Friedens als Vertrag. Ich kann mit einem Friedensvertrag also bestimmte Rechtsvorschriften schließen. Voraussetzung ist aber ein gemeinsames Grundverständnis: Wir sind alle miteinander verantwortlich, dass dieser Vertrag funktioniert. Es geht also nicht um den Vertrag an sich, sondern darum, dass der Vertrag seinen Zweck erfüllt. Frieden, der Gerechtigkeit mit einschließt, beginnt deshalb schon vorher und geht gleichzeitig weiter.
Aktuell arbeiten Sie als Pfarrer und Seelsorger in einer Gemeinde in Kaufbeuren. Wie erleben Sie die Friedensdiskussionen um den Ukrainekrieg dort?
Das Thema beschäftigt die Menschen hier sehr. Kaufbeuren ist eine Vertriebenenstadt. Nach dem Zweiten Weltkrieg siedelten hier vor allem Sudetendeutsche. Auch später wurde die Stadt immer wieder zu einer Anlaufstelle für Migranten. Viele hier lebende Protestanten stammen aus der ehemaligen Sowjetunion. Im März 2022 gab es hier intensive Diskussionen, auch unter Kindern. Mein Eindruck ist, dass das Meinungsbild aufgrund der unterschiedlichen kulturellen Hintergründe auf eine bestimmte Art und Weise diverser ist. Manche erzählen mir von Schwierigkeiten: In Russland, so sagen sie, war ich nur die Deutsche. Hier bin ich nur die Russin. Das wirkt sich auf die eigene Identität aus – mittelbar so auch auf die Haltung zum Krieg. Wir erleben aber auch bereichernde Diskussionen: Warum haben Menschen ihr Land verlassen, wie geht man mit Flüchtlingen um? Die persönlichen Geschichten hier vor Ort sind oft von Brüchen gekennzeichnet. Für Menschen, die selbst vor dem Krieg geflohen sind und für Menschen, die durch ihre kulturelle Identität oft zwischen den Kriegsparteien stehen, stellt sich die Frage nach Frieden nochmal auf ganz andere Art und Weise.
RB
Die Friedensforscher Dr. Christine Schliesser, Tobias Zeeb, Prof. Christo Thesnaar und Micael Grenholm diskutieren zu aktuellen friedensethischen und friedenstheologischen Herausforderungen.